Fußball-EM der Frauen | Ein Schweizer Sommermärchen
Tiina Kipari sieht müde und glücklich aus, als sie am vergangenen Freitag den Sonderzug der Schweizerischen Bundesbahn betritt, der an der Haltestelle Bern Wankdorf auf die Fußballfans wartete. Gerade hat sich das Frauen-Nationalteam der Schweiz gegen Spanien (0:2) im Viertelfinale mehr als ehrenvoll verabschiedet, die Spielerinnen haben eine Ehrenrunde mit einem Plakat »Merci Fans« gedreht. In dem mit einer Schweizer Flagge bemalten Gesicht der gebürtigen Schwedin spiegelt sich kaum Trübsal. Im Gegenteil. Die 53-Jährige ist überzeugt, mit den fast 30 000 anderen Menschen im Wankdorf-Stadion einem Erweckungserlebnis beigewohnt zu haben.
Sie hat wohl ein besonderes Gespür dafür: Ihr Beruf ist es, Kindern den Wert des Sports zu vermitteln. Seit zehn Jahren lebt Kipari mit der Familie in der Schweiz, arbeitet als Leiterin für Jugend und Sport an der Primarschule in Wilen im Kanton Schwyz. Sie ist der Meinung, dass es den Fußball braucht, um Mädchen in der Gesellschaft zu fördern.
Schon immer seien viele interessiert gewesen, trauten sich aber oft nicht, als einziges Mädchen mit lauter Buben zu kicken. Dazu hätte es diesen Mädchen an Vorbildern gefehlt, erklärt die Pädagogin. Jetzt käme ein Wandel in Gange: Fünf, sechs aus jeder Klasse, erklärte sie, würden neuerdings gerne Fußball spielen wollen.
An Kiparis Schule ist der lokale Fußballklub eingebunden. Der Schweizerische Fußball-Verband bietet Programme für Frauen an, den entsprechenden Unterricht abzuhalten. Sie findet das wunderbar. Bereits in Skandinavien hat Kipari die These vertreten, dass die Matheformel besser sitzt, wenn der Dreiklang stimmt: laufen, leisten, lernen.
Aber warum soll es gerade Fußball sein? »Weil man nicht so viel Ausrüstung braucht wie beim Skifahren oder Eishockey. Weil die Klubs nicht so teuer sind wie beim Tennis«, so die Lehrerin. Einleuchtende Argumente.
Vor dem Viertelfinale marschierten 25 000 Menschen gemeinsam durch die Berner Altstadt zum Wankdorf-Stadion – dorthin, wo einst Helmut Rahn Deutschland 1954 zum ersten WM-Titel schoß. Wer hatte mit solch einer Begeisterung der Eidgenossen für die »Nati« der Frauen gerechnet?
»Dass in der Schweiz so etwas passiert, hätte ich niemals geglaubt.«
Pia Sundhage Trainerin der Schweizer Fussballnationalmannschaft
Selbst die Trainerin der Schweizer Fußballnationalmannschaft und schwedische Weltenbummlerin Pia Sundhage brachte das zum Staunen: »Dass in der Schweiz so etwas passiert, hätte ich niemals geglaubt«, sagte die 65-Jährige. Als sie vor anderthalb Jahren nach Bern gezogen war, hätte sie eine solche Welle der Begeisterung nie für möglich gehalten. Zwar trainierte sie das schwedische Nationalteam während deren Heim-EM 2013 und erlebte auch dort einen Hype, der die Spielerinnen bekannt machte. »Aber das war vor über zehn Jahren«, so Sundhage. »Wir haben seither viel gelernt. Ich denke, die Ausgangslage für die Schweiz ist besser als jene damals in Schweden.«
Zumindest einen Sommer lang steht die besonnene Kapitänin der Schweizer Frauen, Lia Wälti, höher im Kurs als Granit Xhaka, der streitlustige Anführer der Männer. Viele hatten gedacht, dass eine derartige Aufmerksamkeit nur mit Alisha Lehmann zu erzeugen ist. Die Schweizer Nationalspielerin mit ihren knapp 17 Millionen Followern auf Instagram und weiteren zwölf Millionen bei Tiktok ist die reichweitenstärkste Fußballerin der Welt. Ihre Selbstinszenierung wirkt grenzwertig – und hat mitunter wenig mit Sport zu tun. Doch bei dieser EM steht der Fußball im Mittelpunkt.
Die 14. Auflage des Turniers ist bereits vor dem Anstoß zum Finale am Sonntag atmosphärisch und organisatorisch ein voller Erfolg. Das amateurhafte, teils provinzielle Ambiente, das beispielsweise noch bei der EM 2009 in Finnland und sogar bei der EM 2013 in Schweden herrschte, ist Geschichte. Und dennoch ist auch die EM 2025 noch ein familiäres, mitunter rühriges Event. Trotz mittlerweile hochprofessioneller Rahmenbedingungen für die Teams, die inzwischen auch die luxuriösesten Hotels nutzen.
Gesteuert wurde das Ganze von der Europäischen Fußball-Union (Uefa), die ihren Sitz in Nyon, einer feinen Gegend am Genfer See hat. Die Fäden liefen bei Nadine Keßler zusammen. Die Europameisterin von 2013 und Weltfußballerin von 2014 ist davon überzeugt, dass nur gesundes Wachstum dem Frauenfußball weiterhilft. Trotzdem gab es mit mehr als 600 000 Besuchern einen neuen Rekord und fast ausnahmslos ausverkaufte Stadien, die zwischen 7750 (Sion) und 34 250 Plätze (Basel) hatten.
Die Frauen-EM bildete den Kontrapunkt zu dem, was der ebenfalls in der Schweiz ansässige Fußball-Weltverband Fifa anstellte. Deren Präsident Gianni Infantino setzt seine Expansionsgelüste rücksichtslos um, bläht die Wettbewerbe der Männer und Frauen immer weiter auf – oder erfindet völlig neue. Die absurd anmutende Klub-WM in den USA, teilweise zeitgleich zur EM der Frauen ausgetragen, hatten saudische Geldgeber ermöglicht. Der Fifa-Boss musste mit US-Präsident Donald Trump gemeinsame Sache machen. Die nächste Weltmeisterschaft der Frauen, ebenfalls von der Fifa organisiert, wird 2027 in Brasilien gespielt, danach sollen die USA dran sein. 48 Teams sind für 2031 geplant.
Die Frauen-EM 2029 bleibt, egal, ob sie nun in Deutschland, Polen, Italien, Portugal oder Schweden und Dänemark stattfindet, bei 16 Teilnehmern. Warum eine Hülle überstülpen, die nicht passen würde? Warum den Wettbewerb aufblähen, wenn viele Nationen aus Europa (noch) nicht so weit sind, argumentiert Keßler. Sie will keine Luftschlösser bauen.
In der Schweiz gab es Fanzonen wie in Basel am Barfüsserplatz, die genau passend wirkten. In Zürich wiesen zehn große, rote Fußballtore, sogenannte »Red Goals«, den Weg. Ein Projekt des Hamburger Lichtkünstlers Michael Batz, das bereits bei der WM 2006 eingesetzt wurde. An einem dieser Tore am Idaplatz versammelten sich junge Leute abends bei vielen Spielen zum Public Viewing. Die Fernseher waren dicht umringt, um neue Heldinnen zu feiern. Etwa Géraldine Reuteler. Eine feine Technikerin, die sich ein riesiges Tattoo auf den linken Oberschenkel hat stechen lassen. Ein Spruch auf Englisch, der für die 26-Jährige selbsterklärend ist: »Die Welt ist viel größer als dein Gehirn. Höre damit auf, nur in deinem Kopf zu leben.«
Mit 13 Jahren zog Reuteler von zu Hause aus, um sich in einem nationalen Leistungszentrum zur Fußballerin ausbilden zu lassen – seit sieben Jahren spielt sie beim Bundesligisten Eintracht Frankfurt, doch nie so populär wie diesen Sommer. »Reuteler erlöst eine ganze Nation«, schrie Calvin Stettler vom Schweizerischen Radio und Fernsehen (SRF) ins Mikrofon, als ihr ein wichtiges Tor gelang. In drei Gruppenspielen nacheinander war sie die »Spielerin des Spiels«, die nun Vereine wie Olympique Lyon oder Paris St. Germain verpflichten wollen. Dort könnte sie vielleicht 20 000, 25 000 Euro im Monat verdienen – das Dreifache wie in Deutschland. Die Gehälter für die besten Frauen steigen rasant, sind trotzdem noch weit weg von den wahnwitzigen Summen der Männer.
»Die Schweizer Bevölkerung ist durch das Turnier mitgerissen worden.«
Tanja Reinhardt Marketingorganisation Schweiz Tourismus
Von dem Hype um die EM will auch der Tourismus profitieren, wie Tanja Reinhardt von der staatlichen Marketingorganisation Schweiz Tourismus erläutert. Unter den 600 000 Stadionbesuchern waren so viele ausländische Gäste wie noch nie. Jedes Jahr kommt es bereits zu vier Millionen Übernachtungen aus Deutschland – künftig könnten es noch mehr werden. »Es wird auch mit einigen Klischees aufgeräumt. Ich habe auch gehört, dass deutsche Gäste gesagt haben: ›So teuer ist es ja gar nicht‹. Bei uns kostet die Pizza auch nicht mehr sieben Euro 50«, so Reinhardt. »Und sie haben gesehen, dass der öffentliche Nahverkehr funktioniert. Teilweise ist es fast zu perfekt.« Für sie sind Abstrahleffekte nach außen und innen entstanden: »Die Schweizer Bevölkerung ist durch das Turnier mitgerissen worden. Fußball ist nicht die Sportart Nummer eins, gerade im Winter nicht.«
Doch nicht überall zog der Frauenfußball die Menschen mit. In der »2. Akt Sportsbar« unweit vom beliebten Schanzengraben in Zürich werden an mehreren Tagen die Woche Fußball-Übertragungen angeboten. Auf neun Bildschirmen, dazu gibt es Fastfood und Bier. Als das letzte Gruppenspiel der Schweiz lief und der SRF-Moderator wieder seine Freude ins Land brüllte, stand der Wirt alleine an der Theke. Er erzählte, dass sein Laden die Tage vorher voll gewesen sein. Als die Halbfinals der Klub-WM liefen. Der FC Chelsea und Paris St. Germain spielten halt attraktiver als Alisha Lehmann, sagte er lapidar. Am 14. Juli schloss sein Treffpunkt für zwei Wochen. Mitten während der Frauen-EM.
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