Atommüll im Ozean: Spurensuche auf 6000 Quadratmetern

Was ist klein, gelb und geht auf und ab? Jedes Kind in Frankreich kennt diesen Scherz, der oft auf Bonbonpapieren geschrieben steht. Diesmal lautet die Antwort jedoch nicht „ein Küken in einem Aufzug“, doch sie ist fast genauso überraschend: ein Tauchroboter namens UlyX im tiefen Ozean.
Gebraucht wird der für die Mission „NODSSUM“, die das französische Nationale Zentrum für wissenschaftliche Forschung CNRS am 15. Juni gestartet hat. Ihr Ziel besteht darin, mehr als 200.000 nach dem Zweiten Weltkrieg versenkte Atommüll-Fässer im nordöstlichen Atlantik zu kartieren. Das Forschungsteam will bewerten, wie sich die Substanzen auf die Umwelt auswirken.
Das Projekt führen der Ingenieur Patrick Chardon und der Meeresgeologe Javier Escartin. Beide werden bis Mitte Juli 2025 von einem auf Atomaufsicht spezialisierten Team auf dem Boot begleitet. Die Mission dient außerdem dem Ziel, einen vom französischen Meeresforschungsinstitut Ifremer entwickelten Roboter zu testen, auch mit Blick auf zukünftige Missionen.
Das sei ein „grundlegendes Anliegen“ für die Meereswissenschaft, sagt Escartin im Gespräch mit dieser Zeitung. Das CNRS untersucht ein 6000 Quadratmeter breites Gebiet in der Nähe des Golfs von Biskaya in internationalen Gewässern. Die genauen Positionen, an denen die Fässer mit radioaktivem Müll liegen, sind nicht bekannt. 1984 hatte es die Mission „EPICEA“ schon geschafft, sechs Fässer aufzuspüren und Lecks festgestellt – jedoch ohne nachweisbare radioaktive Risiken für Menschen.

Lokalisierung der Zonen im nord-östlichen Atlantik, wo Fässer mit radioaktivem Müll versenkt wurden. Die untere Karte zeigt die Lokalisierung von 6 Fässern (mit roten Kreuzen), die 1985 identifiziert wurden.
Quelle: Projet NODSSUM, 2025
Chardon und Escartin zufolge waren diese früheren Arbeiten allerdings aus heutiger Sicht unzureichend. „Damals dachte man, dass Unterwasser-Ökosysteme quasi leblos wären“, erklärt Chardon. Bis Mitte der 2000er Jahre habe man den Schutz der Umwelt vor Atomrisiken als weniger wichtig im Vergleich zu jenem der Menschen betrachtet.
Trotzdem gehe es heute nicht darum, über das frühere Vorgehen zu richten, denn die Versenkung des Atommülls im Ozean sei eben als „technisch mögliche, vernünftige und kostengünstige“ Entsorgungslösung angesehen worden, so Chardon. Die Praktik, die mehrere europäische Staaten jahrzehntelang betrieben, wurde 1993 im Zuge des Londoner Abkommens, einem internationalen Gipfel über die Bekämpfung der Meeresverschmutzung, verboten.
In der Nachkriegszeit seien die Fässer „so dimensioniert worden, dass sie dem Wasserdruck standhalten konnten“, betont der Ingenieur. Allerdings ist das Verfallsdatum der am frühesten versenkten Fässer seit über 50 Jahren überschritten. Der Roboter UlyX soll helfen, den Zustand der Biodiversität in diesem Gebiet des Ozeans festzustellen. Obwohl die Fässer etwa 5000 Meter in der Tiefe stecken, sei UlyX „in der Lage, diese Herausforderung zu meistern“, erklärt Jan Opderbecke, der ihn für das Institut Ifremer entwickelt hat: „Er kann bis zu 6.000 Meter tief tauchen.“
Spezialisiert auf das Überfliegen des Meeresbodens, könne das Gerät dank einem Sonarsystem zur Ortung von Gegenständen 500 Quadratmeter gleichzeitig durchsuchen. Wenn es Fässer entdecke, könne es sich diesen auf bis zu wenigen Metern annähern und mit einem Blitzfotoapparat präzise 3D-Bilder mit hoher Auflösung machen. Dank der Aufnahmen könnten die Experten dann den Zustand der Fässer einordnen und ihre Position vermerken.

Sechs Fässer wurden bei einer Mission 1984 entdeckt.
Quelle: Fûts de déchets faiblement radioactifs, Atlant. NE.
Die Wissenschaftler auf hoher See müssen vorsichtig sein. „Wir wissen nicht, ob es ein Sicherheitsrisiko gibt“, sagt Chardon. Deswegen gelte es, Sicherheitsmaßnahmen zu beachten: Die Probenentnahmen sollen von einem spezialisierten Team mit entsprechenden Geräten analysiert werden, diese halten dabei stets einen gewissen Abstand ein. Bei der Expedition geht es in erster Linie darum, möglichst genaue Daten zu sammeln, um bestehende Gefahren festzustellen.
In Zukunft soll eine weitere Kampagne starten, um einige der Fässer genauer zu untersuchen. Aus dem Ozean bergen lasse sich der Atommüll ohnehin nicht mehr, betont Chardon: „Eine solche Aktion wäre unheimlich teuer und von der Zeit, die dies in Anspruch nehmen würde, her nicht zu schaffen.“ Die Kosten der aktuellen Mission betragen mindestens 50.000 Euro pro Tag – bis zu zwei Millionen insgesamt. Übernommen wird das von der französischen Flotte für Meereskunde des Ifremer-Instituts.
Wenn sich die Ergebnisse als beunruhigend herausstellen, werden sie den zuständigen Behörden mitgeteilt, die im jeweiligen Gebiet mit den gefährlichen Fässern dann die Zufahrt verbieten können. Die Rolle der Forschenden, so betonen sie, besteht nicht darin, selbst eine Lösung zu finden. Es gehe darum, über die aktuelle Situation zu informieren. In diesem Sinne halten sie es für wesentlich, transparent gegenüber der Öffentlichkeit zu sein.
„Nuklearenergie ist generell ein heikles Thema“, betont Escartin. Das lasse sich auch daran erkennen, dass wenige der bisherigen Kampagnen im Ozean, an denen er beteiligt war, ein derartiges mediales Interesse geweckt haben. „Wir wollen deutlich machen, dass diese Mission rein wissenschaftlich bleiben wird und vertreten keine politischen Haltungen“, sagt der Meeresgeologe.

Roboter UlyX.
Quelle: Flotte Océanographique Française - Campagne UlyxDemo (2024)
Alle bekannten Angaben werden unmittelbar veröffentlicht – beispielsweise die Karten der Mission oder Bordbücher der Forschenden. „Beim Thema Atomenergie wurde in der Vergangenheit sehr viel verschwiegen“, sagt Chardon. Er begrüße es, dass seine Kollegen und er sich nicht gegenüber Auftraggebern im Nuklearsektor rechtfertigen müssen. Auch seien sie „völlig frei“ bei der Kommunikation der Ergebnisse. „Wir wollen auch die Gesellschaft auf die Konsequenzen der Vergangenheit aufmerksam machen.“
So unterschiedlich die Länder heute mit dem Thema Nuklearenergie umgehen, die Forschung darüber kann sie zusammenbringen – denn das Team ist international besetzt. Dazu gehört auch das deutsche Johann Heinrich von Thünen-Institut in Braunschweig - vertreten durch den Forscher Pedro Miguel Agostinho Nogueira. Er wird hauptsächlich die Auswirkungen des Atommülls auf die Fische und Fischerei untersuchen. Auch eine Künstlerin unterstützt das Vorhaben. Keramik-Ammoniten von Marina Zindy sollen in 4000 Meter Wassertiefe auf Betongleisbett gestellt werden, wo sie sich mit der Zeit verändern. Es handle sich, so Zindy, um eine „symbolische und poetische künsterlische Geste“, die den Ozean allerdings leider nicht von dem heilen könne, was die Menschen ihm antun.
Die Mission kann in den sozialen Medien unter dem Hashtag #NODSSUM bis zum 11. Juli live verfolgt werden.
rnd