Haben Fadenwürmer ein Bewusstsein?


Smith Collection / Gado / Getty
Im Jahre 1990 publizierten der Neurowissenschafter Christof Koch und der Biologie-Nobelpreis-Träger Francis Crick einen wegweisenden Aufsatz, der die Bewusstseinsforschung auf den Kopf stellte: «Towards a Neurobiological Theory of Consciousness».
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Darin postulierten sie: «Wir wollen annehmen, dass bestimmte Tierarten, im Besonderen die höheren Säugetiere, einige wesentliche, nicht notwendig alle Merkmale des Bewusstseins haben. Deshalb könnten geeignete Experimente relevante Hinweise auf die Mechanismen geben, die dem Bewusstsein zugrunde liegen.»
Allen anderen Tieren gegenüber waren sie weniger grosszügig. Ihnen wollten sie keine solchen Fähigkeiten zuerkennen: «Wir erachten es auf dieser Forschungsstufe als nicht vorteilhaft, darüber zu diskutieren, ob Tiere wie Kraken, Fruchtfliegen oder Fadenwürmer bewusst sind. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass Bewusstsein (. . .) mit der Komplexität des Nervensystems korreliert ist.»
Der Fadenwurm schmeckt und paart sich – alles unbewusst?Kochs sogenanntes Neurobiologie-Paradigma legte die investigative Blickrichtung fest: zuerst das Substrat Gehirn, dann das Resultat Bewusstsein. Im gleichen Zug etabliert es so etwas wie eine Bewusstseins-Hierarchie unter den Lebewesen: Bewusste Prozesse eines neuronalen Netzes sind Ausdruck seiner Komplexität. Wer Bewusstsein finden will, fokussiert also besser auf die höheren Sprossen der Evolutionsleiter.
Aber, abgesehen vom vieldeutigen Begriff der Komplexität, wo, auf welcher ihrer Sprossen installierte die Evolution Bewusstsein? Beim Bonobo, bei der Maus, bei der Fliege? Warum nicht schon beim Fadenwurm C. elegans?
Der Fadenwurm lässt sich geradezu als das Sinnbild für einen «Bottom up»-Ansatz betrachten. In den letzten sechzig Jahren hat er sich als heuristischer Modellorganismus für Fragestellungen und Entdeckungen in der Zellentwicklung etabliert. In seinem Nervensystem zählt man gerade einmal 302 Neuronen.
Trotzdem löst er erstaunlich effizient Aufgaben wie Nahrungssuche oder Paarung. Er hat Chemorezeptoren, die ihn Gerüche und Geschmäcke wahrnehmen lassen; er lernt, hat ein Gedächtnis, bewegt sich auf Dinge zu, die er braucht, schützt sich vor Dingen – Salzen oder Säuren –, die potenziell schädlich sind. Beeindruckende Anpassungsleistungen, ohne hochkomplexe Informationsverarbeitung wie im Gehirn. Neuerdings dient er sogar als Vorbild für sogenannte «liquide neuronale Netze» in der KI.
Handelt es sich also bei den Aktivitäten des Fadenwurms «nur» um physiologische Ereignisse, eine Art Reflexe? Manifestieren sich da nicht vielmehr schon primitive Anzeichen dafür, dass er bewusst auf Umwelteinflüsse reagiert?
Es sind wohl mehr Tiere bei Bewusstsein als lange angenommenDie Frage hat das Zeug zu einer fundamentaleren Debatte. Schon seit längerem ist eine Tendenz zu beobachten, sich vom Neurobiologie-Paradigma zu lösen. Jüngst liess sie sich in der «New York Declaration on Animal Consciousness» vernehmen, einem Manifest, veröffentlicht im April 2024 und unterzeichnet von 480 zum Teil namhaften Fachpersonen.
Unter anderem steht da: «Die empirische Evidenz deutet zumindest die realistische Möglichkeit von Bewusstsein bei allen Wirbeltieren an (einschliesslich Reptilien, Amphibien und Fischen) sowie bei vielen Wirbellosen (einschliesslich Mollusken, Schalentieren und Insekten).» Die bisherige Forschung habe den Grad der neuronalen Komplexität überbewertet, der für ein bewusstes Verhalten erforderlich sei, glauben die Unterzeichnenden.
Nun liefert die moderne Verhaltensforschung einen wachsenden Fundus an Wissen über die oft erstaunlichen kognitiven Vermögen im Tier- und sogar im Pflanzenreich. Was natürlich der Idee Auftrieb verleiht, etwas Bewusstseinsähnliches manifestiere sich in allen Arten, unabhängig davon, wie komplex das Lebewesen aufgebaut sei.
Nicht zuletzt drückt sich darin auch die Opposition gegen die alte, einflussreiche Idee einer «Scala Naturae» aus, eine Stufenleiter, die von niederen zu höheren Arten führt und somit auch Ausdruck menschlicher Überheblichkeit ist – und unter Menschen der Keim des Rassismus.
Kein Herrchen zweifelt am Innenleben seines HundesHier muss man sich vor einem Missverständnis hüten. Mit einfachen Nervennetzen, wie sie Fadenwürmer besitzen, lassen sich zwar Bewegungen koordinieren und reflexartige Reaktionen auf äussere Reize steuern. Aber höhere kognitive Fähigkeiten benötigen ein Netzwerk von Nervenzellen, das von unmittelbaren Reiz-Reaktions-Beziehungen entkoppelt ist. Beim Fadenwurm fehlt eine solche Struktur, deshalb sorgt die Rede von seinem «Bewusstsein» eher für Vernebelung als Klärung. Das spricht dafür, dass das Neurobiologie-Paradigma in die richtige Richtung weist. Auch wenn es bisher keine allgemein akzeptierte Erklärung geliefert hat, wie Bewusstsein aus Gehirnaktivitäten entsteht.
Aber davon abgesehen, öffnet die Frage nach dem Bewusstsein des Fadenwurms eine andere Blickrichtung. Ganz der naturwissenschaftlichen Tradition verpflichtet, studiert die moderne Biologie das Tierleben «von aussen»: also das Verhalten eines Organismus in seiner Umwelt. Aus dieser Perspektive wird auch sein vermutetes «Innenleben» betrachtet.
Dass viele Tiere die Welt auf ihre arteigene Weise erfahren, erleben, erleiden, ist eine Binsenweisheit. Bei Haustieren zum Beispiel zweifeln wir nicht an einem solchen Innenleben. Wenn der Hund sich verletzt hat und winselt, sagen wir nicht: Aha, interessante Aktivität in seinem Neuronennetz. Wir sagen: Er hat Schmerzen. Punkt. Wir nehmen in seinem Verhalten die subjektive Perspektive eines empfindenden Lebewesens wahr.
Wir brauchen erkenntnistheoretische DemutWarum tun wir das? Weil wir die Frage stellen können: Wie ist es, dieser Organismus zu sein? Die Frage definiert den subjektiven Charakter des Tierverhaltens. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel stellte sie vor fünfzig Jahren in seinem klassischen Aufsatz «Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?».
Man kann die Frage leicht falsch interpretieren. Nämlich als Aufforderung, Tiere dadurch besser zu verstehen, dass man sich in sie hineinversetzt, also eine Art von «Fledermaus-Empathie» entwickelt.
Nagel wollte vielmehr auf einen blinden Fleck der Evolutions- und Neurobiologie hinweisen. Selbst wenn wir alle Fakten über das Gehirn eines Organismus kennen würden, bliebe die Frage «Wie ist es, dieser Organismus zu sein?» unbeantwortet. Darauf kann die Neurobiologie natürlich mit Schulterzucken reagieren: «Egal, das ist nicht mein Problem! In meinem Erklärungshorizont hat die Frage keinen Platz.»
Und genau das ist das Problem: Man ist sich seines blinden Flecks nicht bewusst, sieht die Begrenztheit des eigenen Blicks nicht. Das menschliche Bewusstsein mag für uns das erste und vertrauteste sein, aber damit schliesst man das Vorhandensein anderer Formen nicht aus.
Haben Fadenwürmer ein Bewusstsein? Indem wir diese scheinbar absurde Frage stellen, verorten wir den Geist des Menschen in einem umfassenderen Raum kohabitierender «möglicher Geister». Die Frage bewahrt uns vor dem Dünkel der Überlegenheit und Aussergewöhnlichkeit. Sie bringt uns erkenntnistheoretische Demut bei. Sie zielt generell ab auf einen «Gestaltwechsel» in der Wahrnehmung der Natur: Leben ist ein Wunderkabinett voller Wesen mit spezifischen mentalen Lebensweisen, von denen wir womöglich nur den Zipfel einer Ahnung haben.
Wir betreiben dadurch keinen Mystizismus, sondern verleihen der Biologie jenen Problemhorizont, der dem 21. Jahrhundert angemessen ist. Nicht auszuschliessen, dass vor diesem Horizont neue revolutionäre Erkenntnisse über die Natur des Geistes auf uns warten.
nzz.ch