Leerer als ein Vakuum und trotzdem so schwer wie zehn Milchstrassen: Astronomen lokalisieren die fehlende sichtbare Materie


ESA/XMM-Newton and ISAS/JAXA
Was uns Kosmologen als Standardmodell des Universums verkaufen, ist eigentlich ein Witz. Laut dem Modell besteht das Weltall nur zu 5 Prozent aus gewöhnlichen Atomen. Die restlichen 95 Prozent sind «dunkle» Materie- und Energieformen, für die man bis heute keine befriedigende Erklärung hat. Tatsächlich ist die Situation sogar noch schlimmer. Auch von der gewöhnlichen Materie konnten bisher nur 60 bis 70 Prozent mit Teleskopen nachgewiesen werden.
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Dieses Problem der fehlenden normalen Materie steht jetzt vor einer Lösung. Zwei Arbeitsgruppen haben unabhängig voneinander festgestellt, wo sie sich verbirgt und welche Eigenschaften sie besitzt.
In der Summe zu wenig sichtbare MaterieDie normale Materie ist kurz nach dem Urknall entstanden. Sie ist der Stoff, aus dem Sterne und Planeten gebildet werden. Der weitaus grössere Teil dieser Materie liegt allerdings als diffuses Gas vor, das nicht so hell leuchtet wie die Sterne am Himmel. Einen Teil dieses Gases hat man schon vor Jahren lokalisiert. Es befindet sich zwischen den Sternen, im Hof von Galaxien oder auch im Raum zwischen den Galaxien. Zählt man jedoch alle bekannten Beträge zusammen, kommt man nicht annähernd auf die Menge, die theoretisch beim Urknall entstanden sein sollte.
Astronomen haben eine Vermutung, wo sich die fehlende Materie verbirgt. Laut Computersimulationen zieht sich ein filigranes Netz aus heissem Gas durch das Universum und verbindet die hell leuchtenden Galaxien miteinander. In den Gasfilamenten sollte die Materie äusserst dünn gesät sein. Man erwartet eine Dichte von 0,1 bis 30 Atomen pro Kubikmeter.
Dieses extrem dünne Gas strahlt nur schwach. Deshalb ist es bis heute nicht gelungen, individuelle Filamente des Netzes sauber zu charakterisieren. Frühere Messungen mit Röntgenteleskopen hätten eine fünfmal zu grosse Dichte des Gases geliefert, sagt Konstantinos Migkas von der Universität in Leiden. Das sei auf die störende Röntgenstrahlung von Schwarzen Löchern zurückzuführen, die in das filigrane Netz eingebettet seien.
Die Gruppe von Migkas konnte diese störende Strahlung nun erstmals isolieren und aus den Daten entfernen. Die Forscher kombinierten dafür Beobachtungen mit den Röntgenteleskopen Suzaku und XMM-Newton. Für ihre Messungen wählten sie ein riesiges Filament aus, das vier Galaxienhaufen miteinander verbindet. Es erstreckt sich über eine Distanz von 23 Millionen Lichtjahren und ist damit 230-mal so gross wie unsere Milchstrasse.
Die Messungen ergaben, dass das Gas in den Filamenten zehn Millionen Grad heiss ist und etwa zehn Atome pro Kubikmeter enthält. Das sind weniger Atome als im besten Vakuum, das man im Labor herstellen kann. Trotzdem besitzt das Filament die Masse von zehn Milchstrassen. Das vermittelt einen Eindruck davon, wie riesig es ist.
«Die Dichte und die Temperatur des Gases decken sich mit den Ergebnissen von Computersimulationen, die auf dem Standardmodell der Kosmologie fussen», sagt Migkas. Bisher sei allerdings erst ein einziges Filament des kosmischen Netzes in dieser Ausführlichkeit untersucht worden. Man könne daher noch nicht sagen, wie repräsentativ dieses sei.
Mit Radiostrahlung Materie wiegenHier kommt die zweite Arbeitsgruppe ins Spiel. Sie wird von Liam Connor von der Harvard University geleitet. Die Forscher stellten einen Katalog von schnellen Radioblitzen zusammen. Dabei handelt es sich um kurze Ausbrüche von langwelliger elektromagnetischer Strahlung, die in weit entfernten Galaxien stattfinden. Auf dem Weg zur Erde passiert diese Strahlung das diffuse Gas im intergalaktischen Medium. Dabei wird der niederenergetische Anteil der Strahlung stärker abgebremst als der energiereiche. Die Radiostrahlung wird also in ähnlicher Weise aufgefächert wie das Licht in einem Prisma.
Dieser Effekt erlaubte es den Forschern, die gewöhnliche Materie zu wiegen und verschiedenen Medien zuzuordnen. Demnach befinden sich 76 Prozent im intergalaktischen Medium und 15 Prozent im Hof von Galaxien. Die restlichen 9 Prozent entfallen auf Sterne und kaltes Gas in Galaxien. Zusammen macht das 100 Prozent.
Für Connor ist das Problem der fehlenden sichtbaren Materie damit gelöst. Auch Migkas findet, das Problem werde durch die beiden komplementären Arbeiten wesentlich entschärft. Man wisse nun, wo sich die fehlende Materie verberge und welche Eigenschaften sie besitze.
Rückkopplungen machen das Universum homogenerÜberraschend an der Arbeit von Connor ist, dass im intergalaktischen Medium so viel und im Halo von Galaxien so wenig normale Materie zu finden ist. Die Forscher führen das auf Rückkopplungsprozesse zurück. Auf der einen Seite zieht die Gravitation das Gas in die Galaxien hinein. Auf der anderen Seite wird es durch den Teilchenwind von Supernovaexplosionen und supermassereichen Schwarzen Löchern wieder in den intergalaktischen Raum geblasen.
Das könnte dabei helfen, eine Diskrepanz zu erklären, die Kosmologen seit einigen Jahren beschäftigt. Das heutige Universum scheint weniger klumpig zu sein, als es Beobachtungen des frühen Universums nahelegen. Man bezeichnete diese Diskrepanz auch als S8-Spannung. Sie ist zwar nicht so gravierend wie die Hubble-Spannung, die die Expansionsrate des Universums betrifft. Zusammen wecken die beiden Spannungen aber Zweifel, ob das Standardmodell der Kosmologie die Entwicklung des Universums korrekt beschreibt.
Die Messungen seiner Arbeitsgruppe legten nahe, dass die normale Materie im Universum durch Rückkopplungsprozesse in den Galaxien homogenisiert werde, schreibt Connor auf Nachfrage. Möglicherweise lasse sich die S8-Spannung also ohne exotische neue Physik erklären.
Ob die Rückkopplungseffekte tatsächlich stark genug sind, um die widersprüchlichen Messungen miteinander in Einklang zu bringen, müssen Computersimulationen zeigen. Zweifel sind angebracht. Denn die Rückkopplung wirkt zwar auf die normale Materie, nicht jedoch auf die dunkle Materie im Hof von Galaxien. Es wäre daher überraschend, wenn die Gravitation der normalen Materie ausreichen würde, die weitaus grössere Menge an dunkler Materie gleichmässiger über das Universum zu verteilen.
nzz.ch