Urlauber und Geflüchtete auf den Kanaren: Die tödliche Atlantik-Route im Fokus

Auf Lampedusa ist man den Anblick schon fast gewohnt: Während sich Einheimische wie Reisende an den Stränden sonnen, nähern sich Boote voll mit Geflüchteten aus Afrika der Insel. Auf den Kanaren gibt es seit einer Weile ein ganz ähnliches Bild.
2,5 Millionen Deutsche machten im vergangenen Jahr Urlaub auf den zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln vor der afrikanischen Westküste. Sie wanderten durch La Palma, radelten über La Gomera, besuchten Höhlen auf Lanzarote oder entspannten an den Stränden von Gran Canaria, Teneriffa, Fuerteventura. Und manchmal versorgen das Rote Kreuz oder andere Hilfsorganisationen nur wenige Meter weiter gestrandete Migrantinnen und Migranten.
2024 kamen rund 47.000 Geflüchtete auf den Kanaren an: ein Höchstwert. Obwohl die Anzahl der Asylsuchenden insgesamt in Europa um 40 Prozent zurückging, stieg sie auf der Atlantik-Route um 19 Prozent. Die meisten Boote legten in El Hierro an, der kleinsten der sieben Inseln: 14.500 Asylsuchende trafen hier im vergangenen Jahr auf 11.000 Einheimische.

Wenigen Tage, mehrere Jahre: Geflüchtete, die in Deutschland ankommen, sind unterschiedlich lange unterwegs. Untersuchungen zeigen, welche Routen dauern, wo Geflüchtete aufgehalten werden und welche Rolle das Geld spielt.
Die Zahl an Überfahrten ist schon deshalb beachtlich, weil es sich um die tödlichste Fluchtroute der Welt handeln soll. Auf 46.843 Menschen, die es im vergangenen Jahr auf diesem Weg nach Europa schafften, kommen laut der NGO Caminando Fronteras 9757 Geflüchtete, die als vermisst oder tot gemeldet wurden. Jeder Fünfte bis Sechste starb auf der Überfahrt auf dem Atlantik. Erstmals war die Todesrate 2024 so hoch, sie stieg damals um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Während die Kanaren von einigen Stellen von Marokko aus in etwas mehr als 100 Kilometern über das Meer erreichbar sind, müssen Menschen aus Guinea bis zu 2500 Kilometer auf dem Atlantik überwinden. Zwischen einem und zehn Tagen dauert die Überfahrt.
Hochseeuntaugliche und völlig überfüllte Boote wie kleine Holz-, Fischer- und Schlauchboote, ein stürmischer Atlantik und psychische Belastungen sorgen für Gefahren. Viele Überlebende gaben an, dass Menschen erschöpft oder wegen Schubsern aufgrund der Enge vom Boot gefallen und zum Sterben zurückgelassen wurden. An Bord verdursten und ersticken Menschen. Zusammengepfercht sind sie der Sonne schutzlos ausgesetzt. Immer wieder gehen Wasser, Nahrung und Treibstoff aus.
Die meisten Todesopfer legten in Mauretanien ab: Caminando Fronteras registrierte 6829 von hier stammende Tote. 2127 Menschen starben auf dem Weg aus dem Senegal und Gambia zu den Kanaren, 801 Menschen auf der deutlich kürzeren Strecke von Marokko und dem von Marokko besetzten Gebiet Westsahara aus. Unter den Toten 2024 waren 421 Frauen und 1538 Minderjährige. 4050 unbegleitete Minderjährige überlebten die Atlantik-Fahrt.

Sieben Tage waren die Menschen aus dem Senegal auf einem kleinen Holzboot unterwegs, ehe sie La Restinga auf El Hierro erreichten.
Quelle: Maria Ximena/AP/dpa
Die UN-Organisation für Migration (IOM) hat für 2024 nur 696 Todesfälle dokumentiert, gibt aber an, dass von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Caminando Fronteras hingegen hat Daten von amtlichen Stellen und sozialen Organisationen mit Überlebendenzahlen von Bootsunglücken abgeglichen, spricht nichtsdestotrotz von bestätigten Fällen. Auch die NGO geht von einer Dunkelziffer aus.
Noch vor wenigen Jahren war die Atlantik-Route eine kaum genutzte Fluchtroute. 2018 setzten 1307 Menschen aus Nord- und Westafrika erfolgreich auf die Kanaren über. 2019 hatte sich die Zahl mehr als verdoppelt (2698). Stark frequentiert wird sie seit 2020. Damals kamen 23.322 Menschen – eine Steigerung um fast 900 Prozent.
2024 hat sich die Zahl der Ankünfte von Asylsuchenden per Boot nochmals verdoppelt: 46.843 registrierten die Behörden auf den Kanaren. Das waren 73 Prozent aller illegal eingereisten Menschen in Spanien überhaupt. Die Geflüchteten kommen in der deutlichen Mehrzahl aus Marokko und Westsahara, aus Senegal und Mali.
Die Atlantik-Route wurde für viele Geflüchtete aus West- und Zentralafrika zu einer gefährlichen Alternative zur Route durch die Sahara und über das Mittelmeer, weil sie deutlich weniger überwacht wird als die traditionellen Routen. Hier blockieren immer mehr Transitländer und gehen scharf gegen Geflüchtete vor, auch weil sie wie Marokko, Niger oder Tunesien Deals mit der Europäischen Union eingegangen sind. Ständige Kontrollen, Gewalt, Bedrohungen, Menschenrechtsverletzungen und Tod sind reale Szenarien für Geflüchtete.

An einem Strand auf Teneriffa treffen neu angekommene Geflüchtete auf Urlauberinnen und Urlauber in Badekleidung, die mit Wasser und Nahrung aushelfen.
Quelle: imago stock&people
Die Folge der Blockaden sind alternative und in der Regel gefährlichere Fluchtrouten für die Asylsuchenden. Auch in der Sahara sind die Todesfälle deutlich gestiegen, nachdem Schleuser die Migrantinnen und Migranten immer tiefer in die Wüste fahren lassen müssen. Gleichzeitig steigen durch die vielen Umwege die Kosten für die Geflüchteten deutlich.
So hat sich in den jüngsten Jahren eine alternative Strecke über den Atlantik nach Europa etabliert. Von Conakry in Guinea, Bissau in Guinea-Bissau, Ziguinchor und Saint-Louis im Senegal, Nouadhibou in Mauretanien, Dakhla in der marokkanisch besetzten Westsahara sowie den marokkanischen Städten Tarfaya, Tan-Tan und Guelmim legen Boote ab.
Von jenen, die die Überfahrt auf die Kanaren überleben, haben nur die wenigsten eine Chance auf ein erfolgreiches Asylverfahren. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention haben nur etwa 10 Prozent der Ankommenden tatsächlich einen Schutzbedarf.

In solchen Zeltlagern wie hier auf Teneriffa kommen die Geflüchteten aus Westafrika unter.
Quelle: imago images/Pacific Press Agency
Für Spanien und die EU ist die neue Route eine große Herausforderung. Die Einheimischen auf den Kanaren fürchten um den wichtigsten Wirtschaftszweig, den Tourismus, und nehmen die spanische Regierung in die Verantwortung. Madrid wiederum will die Geflüchteten nicht in großer Anzahl aufs Festland lassen, um zu verhindern, dass sie von Spanien aus in andere EU-Länder weiterziehen. Seit fünf Jahren wird so um eine gerechte Verteilung gestritten.
Abschiebungen in großer Zahl sind jedoch nicht bekannt. Stattdessen leben viele Geflüchtete in provisorischen und überfüllten Lagern auf den Inseln. Spanien hat sich zuletzt mit Marokko um ein Abkommen mit Marokko bemüht, das Geflüchtete aus Marokko und Westsahara zurücknehmen soll. Auch mit Gambia, Senegal, Mauretanien, Guinea, Guinea-Bissau und Mali verhandeln Spanien und die EU.
Dass sich die Situation entspannt, ist allerdings wenig wahrscheinlich. Zum einen zeigt der Wechsel von der westlichen Mittelmeer-Route auf die viel gefährlichere Atlantik-Route, dass sich viele Flüchtlinge nicht durch Blockaden aufhalten lassen, sondern vielmehr bereit sind, mehr Umwege und Gefahren in Kauf zu nehmen. Zum anderen gehen die spanischen Behörden davon aus, dass alleine in Mauretanien 300.000 Menschen, auch aus umliegenden Ländern, auf ein Boot warten, das sie auf die Kanaren bringt. Aller Gefahren zum Trotz.
rnd