Woher stammen Deutschlands Medikamente? Eine Spurensuche in Grafiken

Bonn. „Apotheke der Welt“, diesen Beinamen hatte Deutschland in den 1990er-Jahren. Die pharmazeutische Forschung boomte, die Industrie ebenso. Die Bundesrepublik wurde zum größten Arzneimittelexporteur für Entwicklungsländer. Von dieser einstigen Hochzeit sei nicht mehr viel übrig, sagt Dorothee Brakmann, Hauptgeschäftsführerin von Pharma Deutschland, dem Verband der hiesigen pharmazeutischen Industrie. Ein Beweis dafür seien die aktuellen Lieferengpässe bei Medikamenten: „Daran sieht man, dass die wenigsten Arzneimittel, vor allem die der Basisversorgung, noch aus Deutschland kommen.“
Von den rund 100.000 hierzulande zugelassenen Medikamenten seien etwa 500 zurzeit nicht im üblichen Umfang lieferbar, erklärt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Die Lieferengpässe würden vorwiegend Generika betreffen – also Nachahmerprodukte von Arzneimitteln, die einst patentgeschützt waren. Ins Verhältnis gesetzt klingen 500 Medikamente erst einmal nach wenig. Aber schon diese kleine Menge kann problematisch sein, wie sich etwa beim Medikament Methyldopa zeigt. Für dieses Mittel, das bei Schwangerschaftsbluthochdruck eingesetzt wird, gibt es nämlich kaum Alternativen.
Das BfArM unterscheidet grundsätzlich zwischen Versorgungs- und Lieferengpässen bei Arzneimitteln. Ein Lieferengpass liegt dann vor, wenn ein Pharmahersteller die übliche Auslieferung von Medikamenten für voraussichtlich über zwei Wochen nicht aufrechterhalten oder eine deutlich erhöhte Nachfrage nicht bedienen kann. In diesem Fall prüft das BfArM, ob es sich um ein versorgungsrelevantes Arzneimittel handelt und ob es Alternativpräparate gibt. Ist kein Ersatz vorhanden und die Versorgung der Patientinnen und Patienten dadurch gefährdet, spricht man von einem Versorgungsengpass. Nicht immer muss aus einem Lieferengpass ein Versorgungsengpass werden, da es oft Alternativen gibt. Bei welchen Präparaten Lieferungen zurzeit schwierig sind, listet das BfArM in der Lieferengpassdatenbank.
Zur Lieferengpassdatenbank des BfArM„Lieferengpässe sind leider ein Dauerthema in den Apotheken“, sagt Hans-Peter Hubmann, Vorsitzender des Deutschen Apothekerverbandes (DAV). „Immer wieder fehlt irgendein Medikament, für das dann mit großem Aufwand ein Ersatzpräparat gesucht werden muss. In den allermeisten Fällen gelingt das zwar, aber für die Patientinnen und Patienten führt das zu einer unnötigen Wartezeit und auch zu einer Verunsicherung bei ihrer Therapie.“
Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre würden manche Apothekerteams befürchten, dass einzelne Antibiotika, fiebersenkende Mittel oder Medikamente für Kinder in diesem Herbst und Winter vereinzelt wieder nicht lieferbar sein werden. Nach Einschätzung des BfArM besteht dagegen kein Grund zur Sorge: „Vor dem Hintergrund der uns vorliegenden Meldungen und Daten gehen wir für den kommenden Herbst/Winter von einer stabilen Versorgungslage aus“, erklärt das Institut auf Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND).
Dennoch werfen die Lieferengpässe Fragen auf: Wie kann es sein, dass Arzneimittel knapp werden? Und woher kommen die meisten Medikamente inzwischen?
Um die aktuelle Versorgungslage bei Medikamenten zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, warum Deutschland nicht mehr die „Apotheke der Welt“ ist. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer ist, dass der finanzielle Druck auf die Pharmahersteller gestiegen ist. Ihnen machen nach eigenen Angaben neben hohen Energiekosten auch steigende Arbeitskosten zu schaffen. Viele Pharmafirmen haben daher in den vergangenen Jahrzehnten ihre Produktion ins Ausland verlagert – insbesondere nach Asien, wo die Herstellung von Arzneimitteln günstiger ist.
Außerdem hätten Sparmaßnahmen wie Arzneimittel-Rabattverträge Hersteller verdrängt, erklärt Brakmann. Es handelt sich dabei um Vereinbarungen zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den Pharmaherstellern, bei denen ein Hersteller einen Preisnachlass auf bestimmte Medikamente gewährt. Im Gegenzug stellt die Krankenkasse sicher, dass ihre Versicherten die rabattierten Präparate bevorzugt erhalten. Bestimmte Hersteller werden bevorzugt, andere haben das Nachsehen. „Das hat dazu geführt, dass viele Firmen aus dem Geschäft ausgestiegen sind. Es kam zu einer Anbieterverengung“, beklagt Brakmann.
Es ist jedoch nicht so, dass in Deutschland gar keine Medikamente mehr hergestellt werden. „Wir haben noch viele kleine, mittelständische, aber auch große Pharmafirmen, die hier produzieren“, stellt Brakmann klar.
Das bestätigte jüngst eine Analyse der Online-Versandapotheke mycare.de: Von den 50 meistverschriebenen Arzneimitteln in Deutschland werden 21 entweder vollständig oder teilweise hier im Land produziert, 14 Medikamente werden sogar ausschließlich in Deutschland hergestellt.
Auch exportiert Deutschland weiterhin Arzneimittel. Die Einnahmen aus Ausfuhren pharmazeutischer Produkte beliefen sich im vergangenen Jahr auf 115,7 Milliarden Euro, wie aus Zahlen des Statistischen Bundesamts hervorgeht. Rund ein Viertel davon entfiel auf den US-amerikanischen Markt. Nicht nur für Deutschland allein, auch für Europa sind die Vereinigten Staaten ein wichtiger Handelspartner.
Entsprechend besorgt blickt die Pharmabranche auf die von US-Präsident Donald Trump angekündigten Zölle auf Arzneimittel. „Auf den US-Markt kann die Pharmaindustrie nicht verzichten, weil er insgesamt der größte Markt ist“, sagt Claus Michelsen, Chefvolkswirt beim Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). Er beobachtet allerdings, dass Firmen überlegen, vermehrt in den Vereinigten Staaten zu investieren und dort zu produzieren.
Dabei zeigt sich schon jetzt, welche Schwierigkeiten durch Produktionsverlagerungen ins Ausland entstehen. Denn: Auch wenn Deutschland weiterhin selbst Arzneimittel herstellt, werden viele doch inzwischen über Ländergrenzen hinweg produziert. Das verdeutlichte auch die Analyse von mycare.de: Von den meistverschriebenen Medikamenten wird ein Großteil in anderen europäischen Ländern hergestellt – etwa in Spanien, Rumänien oder Polen.
Hinzu kommt, dass zahlreiche hierzulande erhältliche Medikamente aus nichteuropäischen Ländern importiert werden. Bei der Einfuhr sind die USA ebenfalls der wichtigste Handelspartner, gefolgt von der Schweiz.
Ein Aspekt, der oft übersehen wird, ist zudem die Herkunft der Wirk- und Hilfsstoffe der Medikamente. Diese kommen fast alle aus dem asiatischen Raum, vorrangig aus China und Indien. Häufig fehlten aber auch Informationen zur Herkunft der einzelnen Bestandteile, moniert Apotheker Martin Schulz von mycare.de. Da gebe es noch „Spielraum für mehr Transparenz“.
Aus der Verlagerung der Produktion in andere Länder folgt ein zentrales Problem: „Bei Produktionsverzögerungen oder Qualitätsproblemen einzelner großer Wirkstoffhersteller in Asien kann die Produktion von zahlreichen Fertigarzneimitteln in Europa eingeschränkt sein“, erklärt DAV-Chef Hubmann. „Wir sehen, dass die Abhängigkeiten an der Stelle relativ hoch sind“, sagt auch Michelsen. Produktionsprobleme sind nach Angaben des Europäischen Rechnungshofs die Hauptursache für die aktuellen Lieferengpässe.
„Wir brauchen wieder eine Diversifizierung“, fordert deshalb Brakmann. Konkret würde das bedeuten, die Wirkstoffe für Arzneimittel nicht nur aus Asien zu beziehen, sondern auch aus anderen Regionen der Welt – damit man im Fall von Produktionsproblemen auf andere Hersteller ausweichen kann. So könnten Lieferengpässe vermieden werden. „Dafür braucht es aber neue Investitionen, und dafür muss man Preisdruck aus dem Basismarkt rausnehmen“, sagt sie. „Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Firmen wieder vernünftig wirtschaften können.“
Hubmann sieht auch die Billigpreis-Mentalität als Problem an: „Gesellschaft, Politik und nicht zuletzt die Krankenkassen müssen wissen, dass billigstmögliche Arzneimittel dem Ziel einer bestmöglichen Versorgungssicherheit entgegenstehen können. Diese Balance muss besser austariert werden.“
Allein hierzulande steigt der Bedarf an Medikamenten kontinuierlich, wie Daten der Krankenkasse Barmer verdeutlichen. Die Arzneimittelausgaben in Deutschland haben im vergangenen Jahr mit 55,2 Milliarden Euro ein historisches Hoch erreicht. Der Bedarf ist primär dem demografischen Wandel geschuldet: Die Bevölkerung wird älter und entwickelt mehr Krankheiten, für deren Behandlung es Medikamente braucht.
Um den Arzneibedarf zu decken, ist nach Einschätzung der Branchenexperten nicht nur eine Diversifizierung im Handel nötig. Auch der Pharmastandort Deutschland müsse gestärkt werden. Inzwischen sei er zu einem „Hightech-Standort“ geworden, sagt vfa-Chefvolkswirt Michelsen. Gerade in der Biotechnologie – die unter anderem Gen- und Zelltherapien abdeckt, die dabei helfen sollen, Erbkrankheiten zu behandeln – habe sich Deutschland zu einem führenden Forschungsstandort entwickelt. Das sei ein Vorteil, den man nutzen sollte.
Zudem müssten Deutschland und allgemein Europa aufpassen, dass sie nicht zwischen den USA und China „zerrieben“ werden, warnt Michelsen. Denn während die USA der weltweit größte Pharmamarkt sind, treibt China seine Life-Science-Forschung voran. Dabei geht es etwa um Forschung, die eines Tages Krebs heilen und das Leben von Menschen verlängern soll. Neben einem großen europäischen Markt für Arzneimittel, um mit der Konkurrenz mitzuhalten, bräuchte es nach Ansicht von Michelsen in Europa genug Freiraum für Innovationen und einen besseren Einsatz digitaler Technologien.
Auch der DAV befürwortet europäische Initiativen, die die eigene Medikamentenproduktion und -versorgung stärken. „Andererseits begrüßen wir es, dass das Bundesgesundheitsministerium erweiterte Austauschmöglichkeiten einführen will, sodass die Apotheke künftig bei der Rezepteinlösung ein tatsächlich vorrätiges Ersatzmedikament sofort abgeben kann. Patientinnen und Patienten könnten somit schneller versorgt, Apotheken bürokratisch entlastet werden“, sagt Hubmann.
Einen stärkeren Pharmastandort Deutschland wünscht sich auch Brakmann: „Wir fordern, dass Deutschland wirklich eine große Rolle innerhalb von Europa einnimmt, um den Stellenwert, den wir hatten, in der Welt wiederzuerlangen.“ Um wieder attraktiver für Pharmahersteller zu sein, müsse man unter anderem Bürokratie abbauen. „Ich glaube, dass der Pharmastandort Deutschland durchaus unterschätzt wird“, fügt sie hinzu. „Wir schaffen Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum – und wir sorgen auch für die Gesunderhaltung der Bevölkerung.“
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