„Berlin Deko“: Der elitäre Stil, der unter die Räuber fiel

Ein neues Buch feiert die deutsche Version des Art déco. Dessen Möbel wurden doppelt torpediert – erst durch Judenhass und Krieg, dann von der Bauhaus-Ideologie
Als ich in den frühen 1980ern als Studentin nach Berlin reiste, standen einige der Möbel noch in den Pensionen entlang des Kudamms herum. Glänzend schwarz lackierte Tischchen auf Tentakelbeinchen, ein resedagrün gestrichener Badezimmerhocker, ein dickes Nussbaum-Buffet mit kurioser Ornamentik. Zumindest den Hocker hätte ich der Pensionswirtin abkaufen sollen. Denn nun residieren dort längst Anwaltskanzleien, und die Möbelüberbleibsel aus Berlins goldenen bis blechernen 1920ern sind endgültig perdu. In Paris, Stockholm oder New York gelandet, nur selten auf Vintage-Plattformen wie 1stdibs oder Pamono zu erspähen.
Nun die gute Nachricht: Einer der raren deutschen Sammler von Art déco designed and crafted in Germany, hatte Mitleid mit uns Nostalgikern. Markus Winter, seines Zeichens Designer, Vintagehändler und Reiki-Meister mit Wohnsitz in Brooklyn, legt nun ein Buch vor, das die Stücke seiner Möbelsammlung von Museumsqualität in den gebührenden Zusammenhang stellt.
„Ich wollte ein Buch machen, das diese Möbel nicht bloß zeigt, sondern ihre Geschichte spürbar macht“, sagt Winter beim Telefoninterview. Denn: „Ich habe die Möbel immer in verkannten Positionen vorgefunden. So oft wurden sie als etwas angeboten, das sie nicht waren, etwa Barock oder Jugendstil. Sie standen in Kellern oder auf Dachböden. Und nie hieß es: Ich habe was Kostbares und will es weitergeben. Eher: Was ist das überhaupt?“

„Berlin Deko“ heißt das Werk, das eben im Stuttgarter Kunstbuchverlag Arnoldsche erschienen ist und 38 Euro kostet. Das Schöne daran ist – neben einem hoch eleganten Layout auf angerautem 120-Gramm-Papier von Munken – die schwungvolle Leichtigkeit, mit der es auch Laien ins Thema einführt. Bei gleichzeitiger Hyperexaktheit der Fußnoten − hier ist alles belegt, referenziert, niet- und nagelfest dokumentiert.
Wobei das Allerschönste ja doch die Bilder sind. Die verdanken wir vor allem dem zweiten Autor dieser labour of love, Don Freeman. Der renommierte Fotograf hat Porträts der Stühle und Kommoden gemacht, in einer Mischung aus originaler Begleitung (Perserteppiche!) und frech expressionistischer Kulisse, für die Markus Winter selbst zum Pinsel griff. Vor Kunstgeschichte hat er Konzeptkunst bei Gerhard Merz studiert „dann bin ich aus der Akademie in Düsseldorf rausgeflogen“, bekennt er am Telefon. Man hört sein Schmunzeln.
Dazu gesellen sich glamouröse Raumaufnahmen aus deutschen Interior-Zeitschriften der 1920er und Entwurfsaquarelle von Architektengrößen der Epoche wie Bruno Paul, Oskar Kaufmann, Emil Fahrenkamp oder Fritz August Breuhaus. Man kann richtig eintauchen in dieses Buch, sich darin verlieren und von Asta Nielsen, Klaus Mann, Vicki Baum und Rudolf Forster träumen, vom „Cabinet des Dr. Caligari“ und Brigitte Helm in „Metropolis“. Und sich dabei erinnern, dass es in Fritz Langs Jahrhundertfilm von 1927 neben der menschenfressenden Maschinenmoderne ja noch etwas Anderes gibt: die Lebenswelt einer urbanen Elite, wo sich halbnackte Nymphen in Rokokogärten verlustieren und wo Freder, der Sohn des Metropolis-Herrschers, sich herumtreibt als er auf Maria (in Gestalt von Brigitte Helm) mit ihren zerlumpten Waisenkindern trifft. Aha! Genau jenes Upperclass-Elysium voller Zitate aus Antike und 18. Jahrhundert – das ist die Welt dieser Möbel.


Ich telefoniere Mitte Oktober mit Markus Winter; am selben Abend wird er die Premiere seines Buchs im „East Room“ des New Yorker Designhotels Nine Orchard feiern. (Für dessen Dachgarten mit Bar hat er ein schräges Spaliergitter in Giftgrün designt, das man auf seiner Website bewundern kann.) Wer wird voraussichtlich zur Buchparty kommen? „Das sind alles Charaktere. Experten, ehemalige Händler, Museumsleute und Einrichter“, sagt Winter. „Denn das ist das Schöne an New York: Da kommen doch eine Menge Leute zusammen, die sonst kaum in die Öffentlichkeit gehen, aber für so etwas dann eben doch. Weil sie sich für etwas Extremes interessieren.“
Menschen wie Bill Sofield zum Beispiel − der Innenarchitekt hat riesige Läden und Häuser für Tom Ford, Ralph Lauren, Madonna und viele der verwöhntesten Menschen des Globus realisiert. „Oder Fernando Santangelo, ein Protagonist für meinen Weg mit diesem Buch“, sagt Winter. Santangelo ist seit Dekaden einer der führenden Tastemaker Manhattans. Berühmt geworden ist er durch seine Komplettrenovierungen historischer Hotels für den Unternehmer André Balasz, darunter das Chateau Marmont in Los Angeles und das Raleigh in Miami Beach mit seinem sensationellem Art-déco-Pool.
Markus Winter spricht sehr überlegt, fast druckreif. Da redet kein in Superlativen schwelgender Influencer, sein Sprechmodus ist eher der eines Wissenschaftlers oder Diplomaten in komplexer Mission. Und komplex ist das Thema, das er für sein Buch gewählt hat, allemal. Entsprechend lang hat es gedauert: 20 Jahre, on and off.
Knapp unter hundert Möbelstücke des „Berlin Deko“ besitzt Winter, aufgeteilt auf zwei Lager in New York und Niedersachsen. Sein allererstes Möbel des deutschen Art déco? „Das war dieser rosa Schrank auf Seite 15“, sagt Winter. „Den habe ich auf der Antikmesse Palm Beach aufgestellt damals. Ich arbeitete für eine Teppichgaleristin und hatte die Aufgabe, von den Teppichen ausgehend einen Raum zu gestalten. Der Schrank wurde damals als Entwurf von Dagobert Peche angeboten. Im Jahr 2002 habe ich den gekauft.“ Das Ornamentgenie Peche gehörte zu den Stars der Wiener Werkstätte: Falsche Zuschreibungen, die es durch viel Wissen und geduldige Recherche zu korrigieren gilt, das ist leider Usus bei den Möbeln des deutschen Art déco. So erschütternd schwach ist dieses „expressionistische Rokoko“ im Bewusstsein der Fachwelt und damit des Antikhandels verankert.

Für sein Buchprojekt hat Markus Winter ein so qualifiziertes wie begeistertes Autorenteam gebildet. Die Aufsätze verfassten renommierte Möbelhistoriker wie Ulrich Leben, Michael Mertens und Arne Sildatke; den finalen Edit übernahm Wendy Brouwer. Die polnische Kunsthistorikerin Magdalena Palica hat einen auch emotional ergreifenden Text über eines der verlorenen Gesamtkunstwerke dieses Stil geschrieben, die Villa Lewin in Breslau/Wroclaw: „Frau Palica kennt dieses Gebäude und seine einstige Einrichtung in- und auswendig. Ich selbst bin auch zweimal hingefahren, um Fotos zu machen“, berichtet Winter. Heute residiert in dem Haus eine Privatschule, die British International School of Wroclaw.
Der Architekt und Ausstatter der Villa war Oskar Kaufmann – bekannt geworden mit sieben Berliner Theaterbauten, von denen nur das Renaissance-Theater erhalten ist. Er hatte für den jüdischen Textilindustriellen Leo Lewin ein ganzes Team von Künstlern und Handwerksmeistern aus Berlin beschäftigt. Sogar den Steinway-Flügel aus Ebenholz schmückten Reliefs, das Kinderzimmer war ein lichtes Märchenambiente. „In dieser Villa kam alles zusammen: die Mosaiken, die Glasfenster von César Klein, eine Barlach-Skulptur, Gemälde von Hans von Marées und Liebermann“, sagt Winter. „Das Tafelbild fügte sich in die Raumkunst ein, alles hatte gleichberechtigt seine Gültigkeit. Es ging darum, etwas Schönes zu machen.“ Und nicht um Dominanz einzelner Künstler.
Faktisch kühl berichtet Magdalena Palica, wie es weiterging mit Leo Lewins Villa. Nach 1933 wurde sie von der Luftwaffe besetzt, in die nahe Villa seines Vaters zog der „Henker von Breslau“, Karl Hanke, ein. Leo Lewin und seine Frau Helen konnten nach Nordengland entkommen – „in drei Lkws kamen seine Möbel und Bilder nach Durham mit“, sagt Winter. Lewins jüngere Schwester Johanna hingegen wurde 1943 von der Gestapo in Berlin getötet, seine Schwester Cäcilie 1944 in Auschwitz ermordet.

Und warum erschien dieses Buch bei einem deutschen Verlag auf Englisch? „Weil ziemlich klar geworden war, dass in Deutschland kein Interesse dafür da ist,“ konstatiert Markus Winter. Zu der Zeit, als er in Berlin recherchierte, also in den Nullerjahren, seien so naheliegende Institutionen wie das Kunstgewerbemuseum oder die Berlinische Galerie „nicht interessiert an einer Präsentation“ gewesen, berichtet er kühl. „Das Thema wird halt vermieden.“ Schloss Wernigerode im Harz war das einzige Museum, das 2019 eine Ausstellung mit den Möbeln machte. „Diese Abwehr hat mich auch motiviert“, sagt Winter. „Weil sie mich neugierig machte. Es gab sogar Menschen, die mir erklären wollten, warum ein solches Möbelstück nicht so gut ist. Aber für mich blieb da immer auch etwas ungesagt.“

Hier wirkte die überaus erfolgreiche Kampagne des Strategen Walter Gropius und des Charismatikers Mies van der Rohe für die Moderneschule des Bauhauses nach. Indem sie das Bauhaus an die deutsche Nationalobsession für alles reduktionistisch „Aufgeräumte“ und Technische anpassten und mit Manifesten festklopften, haben sie das Wohnen patriarchalisiert. „Auf einmal war das Bauhaus das amtlich gültige Grüppchen. Das jetzt erst, nach hundert Jahren, zerpflückt wird“, stellt Markus Winter fest. Hierzulande klappte der Bauhaus-Coup besonders gut, da Flachdach, kahle Fenster und Stahlrohrmöbel als Beweis instrumentalisiert werden konnten, dass man kein Blut- und Eichenholz-Nazi war. (Dass die Nazis, wenn’s abenteuerlich wurde wie im Zeppelin-Luftschiff, selbst auf Stahlrohr saßen – geschenkt.) Und natürlich schwangen bei all der Einrichtungsmoral auch uralte Ressentiments mit, ein verächtliches Framing für alles Französische/Dekadente/Weibliche/Queere.
Wie schrieb der Künstler César Klein, der sich in ein Dorf bei Lübeck geflüchtet hatte, nach dem Zweiten Weltkrieg: „Zuerst muß der Schutt, hier der geistige Schutt fortgeräumt werden, der jede genialische Entfaltung erstickte.“ Ganz weg ist der Schutt leider noch immer nicht, auch deshalb wünscht man diesem Buch viele Leser in Berlin. Es räumt auf.
Berliner-zeitung




