Gerhard Richter erfand nach der Katastrophe von Shoah und Weltkrieg eine neue Bildsprache des Unaussprechlichen

Der deutsche Jahrhundertmaler zwischen Abbild und Abstraktion: Die Fondation Louis Vuitton in Paris feiert Gerhard Richter.
Peter Kropmanns, Paris

Fondation Louis Vuitton, Paris
Er wurde als Chamäleon der deutschen Kunst bezeichnet. Tatsächlich zeigt sich jetzt in Paris die Wandlungsfähigkeit von Gerhard Richter, der 1932 in Dresden geboren wurde und seit 1961 im Rheinland lebt. Sie stand einer linearen Entwicklung entgegen und bewirkte einstweilige Schlussstriche und markante Neuanfänge.
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Werkphasen und Sprünge führt die nun unter Federführung der Kuratoren Dieter Schwarz und Sir Nicholas Serota von der Fondation Louis Vuitton ausgerichtete Retrospektive klar vor Augen. Deutlich werden aber auch die Konstanten der gut sechs Jahrzehnte währenden Aktivität des Künstlers.
Seit den Ausstellungen, die ihm das Centre Pompidou 1977 und das Musée d’art moderne de la Ville de Paris 1993 eingerichtet haben, ist Richter in der französischen Hauptstadt kein Unbekannter mehr. Jetzt strömen zwar ältere Besucher herbei, die die Ausstellungen von damals gesehen haben, aber das Publikum ist erstaunlich jung, als gelte es, einem Event beizuwohnen, der von Halbwissen befreit.
Das allein schon durch seine Architektur bekannte Ausstellungshaus am Bois de Boulogne schöpft mit 275 Werken aus den Jahren 1962 bis 2024 gleichsam aus dem Vollen. Es bietet den Superlativ der grössten jemals gezeigten Richter-Retrospektive und ein Résumé, denn der Künstler hat das Malen 2017 eingestellt. Zu sehen sind viele gemalte Bilder, aber auch Zeichnungen und Aquarelle, übermalte Fotografien sowie einzelne Skulpturen, etwa Arbeiten aus Stahl und Glas.

Den Auftakt der vorwiegend chronologisch voranschreitenden Präsentation bilden «Tisch» (1962) – trotz älteren Arbeiten zur Nr. 1 des Werkverzeichnisses erklärt – sowie Gemälde jener Jahre, als John F. Kennedy ermordet wurde und die Studenten auf die Strasse gingen. Es sind Werke, die Richter lange nach der Aufnahme seines Studiums an der Akademie in Dresden (1951), seinem Schlüsselerlebnis der Kasseler Documenta II (1959) und seiner Flucht aus der DDR (1961) geschaffen hat.
Motivisch aber haben sie mit seiner Herkunft zu tun: Malerei, die Fotografien aus dem Familienalbum oder illustrierten Zeitschriften aufgreift und wiedergibt. Indes verfremdet der Künstler die durchaus qualitätvollen Vorlagen, indem er ihnen durch Verwischung und Vermalung die Schärfe nimmt.
Damals entstehen auch erste Landschaftsbilder. Ein Markenzeichen Richters ist es, als Filter zu fungieren. Er arbeitet nicht nach der Natur oder einem Modell, sondern nach deren Abbildern, die er wiederholt, dabei aber interpretierend modifiziert, um autonome Bilder zu erzeugen. Seine Utensilien sind unterschiedlich kleine oder breite Pinsel, Palettmesser und später Werkzeuge bis hin zu Planken, mit denen er schabt und kratzt, um Verdecktes sichtbar zu machen.
Richter benutzt zunächst ausschliesslich Schwarz, Weiss und Grau in allen Abstufungen, bis Grau allein zu Monochromen wird. Farbigkeit ist Ausnahme und erscheint allenfalls stark gezügelt. Während ihn Verwischung und Vermalung weiterhin interessieren, kommen erste Auseinandersetzungen mit optischen Täuschungen ins Spiel, wie die Werke «Fenster» oder «Grauschlieren» demonstrieren.
Auch das Bild von einem verschwommenen «Hirsch» im Wald, der von klar konturierten Linien umgeben ist, die Zweige und Geäst bezeichnen, enthält im Keim bereits den Ausdruck von der Malerei immanenten Problematiken und Reizen, die Richter nicht nur bis 1970, sondern auch noch später und über alle vermeintlichen Intermezzi hinweg bewegen. Ohne Unterlass wendet er sich neuen Motiven, aber vor allem neuen technischen und formalen Herausforderungen zu.



In den frühen 1970er Jahren wird seine Malerei gestischer und farbiger. So setzt er für «Parkstück» Bürsten ein und mischt Grau unversehens Olivgrün und Bordeauxrot bei. Motivisch greift er auf während seiner Reisen – etwa am Vierwaldstättersee, auf Grönland oder in Venedig – Gesehenes und Fotografiertes zurück, zeitversetzt, denn oft erst im Nachhinein. In der Lagunenstadt besucht er zwar die Biennale, entdeckt aber vor allem eine «Verkündigung» von Tizian. Diese wird zum Motiv einer Verfremdung, bei der sich Farbe vom Sujet entfernt, dieses auflöst und sich verselbständigt.
Die Jahre 1976 bis 1986 stehen für einen Aufbruch zu einem für ihn ganz neuen Kolorismus, denn zu Grau, Grün und Rot treten nun Gelb oder Rosé. Die bis dahin zurückgenommenen, matten Töne weichen sogar schrillen Neonfarben. Zugleich legt er Schichten von übereinander aufgetragener Farbe frei und versetzt Untergründe und Oberflächen in einen Dialog. Neben dezidiert Experimentellem setzt er seine Tätigkeit als Landschaftsmaler, aber auch als Maler von Stillleben fort.
In beiden Genres wirkt er geradezu klassisch. Motive sind etwa eine brennende Kerze oder eine «Flasche mit Apfel» (1989). Hatte er lange an einer, wenn auch abstrahierenden Gegenständlichkeit festgehalten oder sich auf dem Grat zwischen Figuration und Abstraktion bewegt, beginnt er mit Bildern, die nichts anderes mehr sind als Konstellationen und Konglomerate von Pigmenten.
Weil die Struktur des Ausstellungsparcours der Fondation Louis Vuitton im Wechsel tendenziell Abstraktes und tendenziell Gegenständliches vorführt, beschert die Schau Wechselbäder aus strengen und ernsten, bisweilen freudlosen Passagen und solchen, die zugänglicher, mitunter gefällig erscheinen. Die weit pendelnde Ästhetik des Künstlers bleibt indes auf geradezu unverwechselbare Weise bestimmend.



The Museum of Modern Art, New York
Die Schau wartet mit Werken auf, die mit den Jahren zu Inkunabeln geworden sind: Neben dem «Akt auf einer Treppe» ist die Serie der «48 Porträts» nach Fotografien berühmter Wissenschafter, Schriftsteller und Musiker wie Albert Einstein, Thomas Mann oder Giacomo Puccini zu sehen. Zu den über hundert Leihgebern zählt das New Yorker Museum of Modern Art, das die Serie «18. Oktober 1977» nach Paris gab. Sie geht auf fotografische Aufnahmen der Leichen von Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin zurück – RAF-Mitglieder um Ulrike Meinhof, die tot in ihren Zellen gefunden wurden.
Ähnlich wie bei der Verfremdung der Fotografie von Bombern, die seine Geburtsstadt in Schutt und Asche legten, vermitteln Zeitgeschichte und Aktualität der Presseberichterstattung Denkanstösse, die sich um eigene wie kollektive Traumata, deren Verdrängung oder Verarbeitung sowie Identität drehen.
Phasenwechsel sind bei Richter künstlerisch wie biografisch bedingt. Die Rückkehr zu einer geometrischen Grundform, einer Kugel, ist ihm ebenso Ausgangspunkt für die Suche nach einer Neuorientierung wie private Ereignisse. Seine Ehefrauen, Marianne, genannt Ema, Isa und Sabine, sowie seine Kinder motivieren Szenen der Intimität.
Weniger explizit vollzieht sich das Aufgreifen etwa der Beschäftigung mit optischen Täuschungen oder mit Farbfeldern; Aufflackerndes verschwindet, bevor es verändert erneut zum Zug kommt. So wird aus der vorgefundenen und dann reproduzierten Farbkarte, einem Musterbogen von Herstellern, nach Zwischenschritten eine vom Zufallsgenerator zusammengesetzte, wenn auch nachbearbeitete Komposition, schliesslich ein Verfahren.

Fondation Louis Vuitton, Paris




Dasselbe setzt er für das wohl prominenteste Ergebnis ein, das hohe Fenster an der südlichen Querhausfassade des Kölner Doms. Es bringt ihm allerdings nicht nur Zustimmung ein, sondern auch den Vorwurf der Einfallslosigkeit. In ähnlicher Weise wird das Resultat einer Auftragsarbeit für den Reichstag in Berlin quittiert; Richter kombiniert naheliegender- und zugleich überraschenderweise Schwarz mit Rot und Gold.
Einzelne Findungen mögen Sackgassen oder zeitweiligen Mangel an Inspiration materialisieren, wie sie auch andere Künstlerviten aufweisen. Doch vieles überzeugt, darunter aus feinsten vielfarbigen Streifen Bestehendes oder das Ensemble, das mit «Silikat» betitelt ist.
Den Schlussakkord seines malerischen Werks und der Ausstellung setzen die vier grossen Tafeln «Birkenau». Richter bezieht sich dafür 2014 auf vier auf dem Gelände des Konzentrationslagers bei Auschwitz heimlich aufgenommene historische Aufnahmen. Er überträgt die unermessliches Grauen dokumentierenden Vorlagen in gänzlich abstrakte Kompositionen. Unaussprechliches wird hier zu Unzeigbarem.
«Gerhard Richter», Fondation Louis Vuitton, Paris, bis 2. März. Katalog: 49.95 Euro.
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