Das lässt tief blicken

Die Reise begann 2016 auf einer Trauerfeier im Sauerland, der ursprünglichen Heimat von Claudia Grabowski. Ein kalter Novembertag in Nachrodt-Wiblingwerde. Nach der Beerdigung hing Grabowski ihren Gedanken nach über Vergänglichkeit, über Leben und Tod. Die Gesellschaft versammelte sich vor dem Gasthof »Schöne Aussicht«. Er liegt schräg gegenüber dem Friedhof mit Blick auf einen Schotterparkplatz. Schöne Aussicht? Grabowski schmunzelte angesichts all der Tristesse. »Ich mag Widersprüche und Skurriles«, sagt die Fotografin.
Zunächst durch Zufall stieß sie auf weitere Orte mit dem verheißungsvollen Namen. Das Panorama: Bauzäune, asphaltierte Straßenkreuzungen, verlassene Klettergerüste, heruntergelassene Jalousien. Der Kontrast faszinierte sie, und Grabowski fing an, gezielt nach Deutschlands »schönen Aussichten« zu suchen. Grabowski, Jahrgang 1981, lebt inzwischen in Bremen und arbeitet als Pressesprecherin. Der Fotografie widmet sie sich in ihrer Freizeit, also fuhr sie auf dem Weg zu Freunden in anderen Städten nun Umwege über Landstraßen, fotografierte Schilder und Raststätten.
75 »Schöne Aussichten« hat Grabowski innerhalb von neun Jahren quer durch die Bundesrepublik verteilt entdeckt: Pensionen, Gasthäuser, Campingplätze, Restaurants, Hotels, Cafés oder Kleingärten. Oft verwaist oder geschlossen. Die Bilder erzählen eine Geschichte über Deutschlands Provinz.
Schön war einmal: Wo einst eine gute Sicht lockte...
... blickt man in Wathlingen (Niedersachsen) nun auf öden Asphalt.
Steinach, Baden-Württemberg.
Die Suche nach den »Aussichten« führte die Fotografin Claudia Grabowski 8000 Kilometer weit, kreuz und quer durch die Bundesrepublik.
Spielschluss: Übernachtung mit Blick auf...
... ein verlassenes Klettergerüst in Wettenberg-Launsbach, Landkreis Gießen.
Die Adresse dieses Hotels am Masserberg im Thüringer Wald lautet:
An der Schönen Aussicht 3.
Ein Sichtschutz ist praktisch, um allzu forsche Blicke von Restaurantgästen zu verhindern.
Und so beflügelt die graue Kunststoffkulisse in Hallenberg am Rothaargebirge die Fantasie. Was sich wohl hinter ihr verbergen mag?
Am Rand von Wolfsburg ist der Name ausnahmsweise noch Programm:
Zwei Linden umrahmen den Blick auf Felder.
»Im Walisischen gibt es das Wort ›Hiraeth‹, es beschreibt eine Mischung aus Heimweh, Nostalgie und Sehnsucht nach etwas unwiederbringlich Verlorenem.« Ein Gefühl, das die Fotografin bei ihren Reisen durch Deutschland nicht losließ.
Eine verlassene Pension in Drolshagen, Sauerland. Früher wurden hier Geburtstage, Konfirmationen, Silberhochzeiten gefeiert.
Mit den Gaststätten sterben auch Orte der Erinnerung.
»Mein Herz gilt der Provinz«, sagt Claudia Grabowski. »Dort, wo Friseursalons ›Haarmonie‹ heißen und das Schützenfest noch ein Großereignis ist, bin ich aufgewachsen.«
Früher war das Wirtshaus ein sozialer Mittelpunkt des Dorfes. Hier wurde gestritten, gefeiert, getrauert. Freundschaften und Ehen entstanden zwischen Theke und Tanzfläche, der Stammtisch galt als Nachrichtenforum, lange vor den sozialen Medien. Die Kneipe war für viele das zweite Wohnzimmer. Ein Hybridraum zwischen Intimität und Öffentlichkeit, zwischen Freiheit und Verbindlichkeit. Man wusste, wer kommt, wer geht, und irgendeinen Nachbarn zum Austausch fand man immer. »Die trostlosen Überbleibsel einst lebendiger Begegnungsstätten zu sehen, weckt eine gewisse Wehmut in mir, denn mit den Gaststätten stirbt auch ein Gemeinschaftsgefühl«, sagt Grabowski.
Was passiert mit Orten, wenn ihre gesellschaftliche Funktion schwindet? Wie nutzen wir Raum? Und was bleibt von der Kneipenkultur? Claudia Grabowskis Fotos sollen auch anregen, über den Wandel auf dem Land nachzudenken. Sie sagt: »Die Aussichten sind nicht immer schön, aber stimmig.«
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