Psychologie: Praktizierst du wirklich Dankbarkeit – oder toxische Positivität?

Dankbarkeit kann ein wichtiges Tool für unsere psychische Gesundheit sein, bewegt sich aber auf einem schmalen Grat – und schlägt schnell in toxische Positivität um. Wo genau der Unterschied liegt und wie du wirklich Dankbarkeit kultivierst, erklärt eine Therapeutin.
Dankbarkeit hat in den vergangenen Jahren einen unvergleichlichen Siegeszug hingelegt. Zu Recht: Dankbar zu sein für das, was wir haben, ist gesund und wichtig, das bestätigt auch die Wissenschaft. Wer immer nur danach strebt, was vermeintlich noch fehlt, macht sich das Leben selbst unnötig schwer.
Gleichzeitig kann es auch Gefahren bergen, wenn wir ständig und immer für alles dankbar sein sollen, wie die Therapeutin Jody Kemmerer auf "mindbodygreen" erklärt. "Die Wahrheit ist doch, dass Dankbarkeit sich manchmal sehr weit weg anfühlt", so die Expertin. "Das kann dazu führen, dass wir uns noch schlechter fühlen, wenn wir sie nicht erreichen können."
Wann positives Denken wirklich helfen kannAls Antwort darauf könne es passieren, dass wir dieses unangenehme Gefühl mit etwas Positivem ersetzen wollen. "Und hier kommt toxische Positivität ins Spiel", erläutert Kemmerer. Toxische Positivität meint, dass wir uns wünschen, etwas zu fühlen, das wir gerade nicht wirklich empfinden. Stattdessen kritisieren wir uns selbst, weil wir unser Verhalten für nicht angemessen halten. Und mit einem einfachen "Denk positiv!" ist es laut der Psychotherapeutin da nicht getan.
Laut Kemmerer könne positives Denken zwar durchaus hilfreich sein – vor allem, wenn es um starke Ängste geht. "Wenn wir diese Technik aber nutzen, um unsere echten Erfahrungen zu vermeiden oder leugnen, laufen wir Gefahr, unsere Gefühle zu entwerten."
Dankbarkeit: Emotionen mit Neugier statt mit Wertung begegnenDabei sei es laut Jody Kemmerer wichtig zu verstehen, dass wir uns nicht aussuchen können, was und wie wir fühlen. "Aber wir haben durchaus in der Hand, wie wir mit diesen Gefühlen umgehen." Sie empfiehlt Neugier als zentralen Schritt zu einer wirklichen Dankbarkeitspraxis. Anstatt unsere Emotionen zu bewerten oder wegschieben zu wollen, könnten wir ihnen interessiert begegnen. "So machen wir uns auf den Weg, das negative Gefühl in etwas Positives wie Dankbarkeit oder gesunden Stolz umzuwandeln."

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In ihrer Arbeit als Psychotherapeutin hat Kemmerer erkannt, dass Dankbarkeit häufig dann entsteht, wenn es Menschen gelungen ist, ihre schmerzhaften Emotionen wirklich anzunehmen – und nicht, wenn sie probiert haben, diese krampfhaft in etwas Positives umzuwandeln.
So können wir Gefühle annehmenDafür nennt sie einige Beispiele: "Wir sind dankbar für einen Schluck Wasser, wenn wir intensiv trainiert haben und durstig sind. Wir sind stolz, wenn wir eine gesunde Grenze im Umgang mit unserer Familie gesetzt haben." Beides könne nur geschehen, wenn wir anerkennen, wie wir darunter leiden, genau das nicht zu tun. Deshalb ist es wichtig, diese negativen Gefühle erst einmal zu akzeptieren, um in Zukunft Positives daraus zu ziehen.
Das gelte etwa für Wut. "Wenn wir unsere Wut unterdrücken, bleibt sie nicht nur irgendwo in unserem Körper, wir verpassen auch die Botschaft, die dieses Gefühl uns mitteilen möchte", erklärt Jody Kemmerer. Dankbarkeit können wir nur wirklich spüren, nachdem wir verstanden haben, was unsere Wut uns sagen möchte.
Sie empfiehlt uns deshalb das nächste Mal, wenn wir versuchen, Dankbarkeit oder ein anderes positives Gefühl zu kultivieren, mit der Frage zu starten: "Was hindert mich gerade daran, dankbar zu sein (oder zufrieden oder stolz)?" Im nächsten Schritt könnten wir dann neugierig und offen versuchen herauszufinden, warum wir uns wütend oder ängstlich oder vielleicht eifersüchtig fühlen. "Diese Praxis der Akzeptanz führt uns zu wahrer Positivität", erklärt die Therapeutin.
mbl Brigitte
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