"Habe ich noch nie erlebt": Dobrindts Taktik könnte Grenzbeamten zum Verhängnis werden

Anfang Mai besucht Innenminister Dobrindt den Kontrollpunkt Kiefersfelden an der österreichischen Grenze.
(Foto: picture alliance/dpa)
Das Berliner Verwaltungsgericht erklärt die Zurückweisungen von Schutzsuchenden für nicht vereinbar mit dem EU-Recht. Innenminister Dobrindt hält trotzdem an der Praxis fest. Das wirft rechtsstaatliche Fragen auf - und könnte für die Beamten an der Grenze zu einem persönlichen Problem werden.
Für Tausende Bundesbeamte droht das, was Alexander Dobrindt derzeit tut, zum heiklen Drahtseilakt zu werden. Als Bundesinnenminister ist der CSU-Politiker Dienstherr der Bundespolizei. In erster Linie heißt das: Die Polizistinnen und Polizisten vollziehen, was Dobrindt anweist. Das kleine Einmaleins der Verwaltungshierarchie. Was aber, wenn das, was der Dienstherr anordnet, gegen Gesetze verstößt oder zu verstoßen droht? Blinder Gehorsam ist nach dunklen Zeiten deutscher Verwaltungsgeschichte keine Option mehr. Stattdessen wächst die Verantwortung der Beamten selbst.
Rund 14.000 Polizisten sind an den deutschen Grenzkontrollstellen stationiert, 3000 weitere sollen folgen. Ihre Aufgabe: Menschen ohne Einreisegenehmigung bereits an der Grenze aufspüren und zurückweisen. Mit wenigen Ausnahmen gilt das nun auch für jene Geflüchtete, die in Deutschland Asyl beantragen wollen. Ein faktisches Einreiseverbot für alle Menschen ohne Papiere - die Anweisung dazu hatte Dobrindt nur einen Tag nach seinem Amtsantritt gegeben.
Die Beamten sollen sich, so der Innenminister, ab sofort an Paragraf 18 des Asylgesetzes halten. Danach ist Ausländern die Einreise nach Deutschland dann zu verweigern, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat wie etwa Polen, Österreich oder Frankreich kommen. Was nun kaum eindeutiger klingen könnte, hat einen Haken: EU-Recht geht dem nationalen Asylrecht vor. Das ist ausnahmsweise vollkommen unbestritten - auch innerhalb der Bundesregierung. Damit wird der von Dobrindt angepriesene Paragraf 18 von den Dublin-Verordnungen überlagert. Und das bedeutet: Deutschland ist verpflichtet, Asylsuchende aufzunehmen. Zumindest so lange, bis in einem ordnungsgemäßen Verfahren geklärt wurde, wer für sie zuständig ist.
"Irritierende" Reaktion auf GerichtsentscheidungZu diesem Ergebnis kam jüngst auch das Berliner Verwaltungsgericht. Die Richter erklärten die Zurückweisungen von drei Somaliern für rechtswidrig. Der Argumentation der Regierung erteilte das Gericht eine deutliche Absage. So pocht die Merz-Regierung auf Artikel 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU, eine Art Ausnahmeregelung: Danach würden die Dublin-Verordnungen ausgehebelt, wenn sich Deutschland in einer Notlage befände. Allerdings sind die Anforderungen an eine solche Lage - bekanntermaßen - enorm hoch. Die öffentliche Ordnung muss ernsthaft gefährdet sein, wie etwa in einem bevorstehenden Bürgerkrieg oder inneren Unruhen. Der Europäische Gerichtshof hat dies bereits mehrfach klargestellt. Entsprechend begründe die von der Regierung angeführte Asylantragszahl von insgesamt 229.751 im vergangenen Jahr keine Notlage, erklärten die Berliner Richter. Zumal die Zahlen bereits vor Dobrindts Anweisungen begannen zu sinken.
"Vor diesem Hintergrund war die Entscheidung aus Berlin alles andere als überraschend", sagt Patrick Heinemann im Gespräch mit ntv.de. Deutlich irritierender sei hingegen die Reaktion der Regierung auf die Beschlüsse des Gerichts. Dobrindt verkündete prompt, an den Zurückweisungen festzuhalten. Die Anordnung an die Bundespolizisten bleibt entsprechend erhalten, als Rechtsgrundlage wird weiterhin Paragraf 18 des Asylgesetzes genannt. Er gehe davon aus, sich damit innerhalb des europäischen Rechts zu bewegen, sagte der Innenminister. Nur haben ihm Berliner Richter soeben Gegenteiliges bescheinigt. Das wiederum, so Dobrindt, liege an den zugrunde liegenden Einzelfällen. Auch Bundeskanzler Friedrich Merz geht nach den Gerichtsbeschlüssen davon aus, weiterhin einen gewissen "Spielraum" zu haben. Was genau er damit meint, bleibt bis heute offen.
Dobrindts Einwand hinkt"Ich habe es noch nie erlebt, dass eine Bundesregierung die Entscheidung eines Gerichts, noch dazu eines Verwaltungsgerichts, so krass missachtet", sagt Heinemann. Aus gutem Grund. Ohne Gewaltenteilung ist ein Rechtsstaat nicht denkbar. Und das heißt: Die Exekutive muss sich bei allem, was sie tut, an das Gesetz halten - die Kontrolle dafür liegt bei der Justiz. Dabei schließt Letztere gerade nicht nur oberste nationale oder internationale Gerichte ein, wie Dobrindt jüngst suggerierte. "Vielmehr ist es ja gerade die Kernaufgabe aller deutschen Verwaltungsgerichte, das Handeln der Verwaltung und Regierung auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen", stellt Heinemann klar.
Formal betrachtet handele es sich bei den Berliner Beschlüssen zwar um Einzelfallentscheidungen. Das, so Heinemann, liege in der Natur der Sache. Immerhin beziehen sich Gerichtsentscheidungen in aller Regel auf die am Verfahren beteiligten Parteien. Allerdings komme es darauf an, ob den Entscheidungsgründen auch über den Einzelfall hinaus Bedeutung zukommt. "Und das ist hier eindeutig der Fall." Das Gericht entschied, dass es an einer Notlage in Deutschland fehlt, um von der Dublin-Verordnung abweichen zu können. Viel grundlegender könnten die Entscheidungsgründe kaum sein. Sie beziehen sich eben nicht nur auf die drei Somalier, sondern gilt selbstverständlich auch dann, wenn andere Schutzsuchende an der deutschen Grenze stehen.
Zumal sogar die ursprünglich zuständige Einzelrichterin den Fall "wegen grundsätzlicher Bedeutung" an eine Kammer mit drei Mitgliedern weitergereicht hat, wie die "Süddeutsche Zeitung" berichtete. Schließlich galt selbst das Haupt-Argument von Polizei und Regierung im Verfahren nicht spezifisch den Somaliern. Dobrindts jüngste Ankündigung wirft daher gleich mehrere Fragezeichen auf. So wolle man hinsichtlich der vermeintlichen Notlage "eine ausreichende Begründung liefern", sollte der Europäische Gerichtshof über die Zurückweisungen entscheiden. Allerdings bezogen sich die dargestellten - ohnehin rückläufigen - Zahlen zu Asylgesuchen bereits auf Gesamtdeutschland. Und sollte es tatsächlich weitere Anhaltspunkte für eine Notlage geben - warum hat der Bund sie dann nicht bereits im Berliner Verfahren eingebracht, um einer Niederlage zu entgehen?
Unbehagen unter Beamten wächst"Meines Erachtens ist die Reaktion der Regierung nicht mehr als Augenwischerei", bilanziert Heinemann. "Denn die Realität sieht so aus: Die aktuelle Praxis an der Grenze ist rechtswidrig. Das wurde juristisch bestätigt und soll trotzdem fortgesetzt werden." Da Dobrindt nicht selbst an der Grenze steht, bedeutet das vor allem eins: Tag für Tag führen Tausende Bundesbeamte eine Anordnung aus, die - wie festgestellt - auf juristisch sehr dünnem Eis steht. Wie riskant dieser Spagat ist, nimmt auch die Behörde selbst zunehmend besorgt wahr.
"Ich sehe auf den ersten Blick, dass die Exekutive hier was anderes sagt als die Judikative. Das halte ich für einen wahrhaft problematischen Zustand, der schleunigst geklärt werden muss", sagte der Bundespolizeibeauftragte Uli Grötsch der "Rheinischen Post". "Die Kollegen fragen sich jetzt natürlich: Handeln wir noch rechtmäßig oder vielleicht sogar rechtswidrig?", gibt auch Andreas Roßkopf, der Vorsitzende der Bundespolizei in der Gewerkschaft der Polizei im Gespräch mit RTL zu bedenken. Einige fürchteten sogar strafrechtliche Konsequenzen.
So "vollkommen abwegig" wie Dobrindt diese Befürchtung einschätzt, ist sie keineswegs. Zwar sind die strafrechtlichen Hürden für Polizeibeamte hoch, wie Heinemann erklärt. Grundsätzlich tragen sie nach dem Bundesbeamtengesetz jedoch die volle persönliche Verantwortung für die Rechtmäßigkeit ihrer Handlungen. "Dazu hat sich der Gesetzgeber in Abkehr des Beamtenrechts der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus entschieden." Dass eine persönliche Strafbarkeit schon ausgeschlossen sei, weil die Beamten "einer klaren Weisung folgen", wie Dobrindt ausführt, trifft also nicht zu.
Strafbarkeitsrisiko wächstEbenso wenig können die Beamten im Vorhinein von ihrer persönlichen Haftung freigezeichnet werden. Roßkopf hatte zuletzt eine schriftliche Klarstellung vom Innenministerium gefordert, in dem Gerichtsverfahren gegen die Beamten ausgeschlossen wird. "Das allerdings hätte kaum den gewünschten Effekt", sagt Heinemann. "Einen solchen Freifahrtschein gibt es nicht."
Um zwischen Weisungsgebundenheit und persönlicher Verantwortlichkeit nicht in eine Zwickmühle zu geraten, gibt es allerdings einen anderen Weg: die Remonstration. Wenn die Beamten ihre Bedenken zweimal äußern, erst bei ihrem Vorgesetzten, dann bei dem nächsthöheren Vorgesetzten, werden sie grundsätzlich von ihrer persönlichen Verantwortlichkeit befreit, wie Heinemann erklärt. In der Praxis werde davon zwar nicht allzu häufig Gebrauch gemacht. "Im Fall der Zurückweisungen täten sie jedoch gut daran zu remonstrieren - zumindest jetzt, wo die Rechtswidrigkeit immer offensichtlicher wird."
So komme neben disziplinarrechtlichen Konsequenzen vor allem eine Strafbarkeit wegen Nötigung im Amt in Betracht. Die Beamten müssten die Schutzsuchenden durch Drohung mit Gewalt oder einem empfindlichen Übel zu einem bestimmten Verhalten bewegen. "Das dürfte zweifelsfrei der Fall sein, wenn sie Schutzsuchende in Uniform und bewaffnet davon abhalten, die Grenze zu überqueren." Allerdings würden sich Polizisten vor diesem Hintergrund reihenweise der Nötigung strafbar machen. Entscheidend ist am Ende also, ob ihre Handlung auch rechtswidrig war - und wie offensichtlich dies für die Beamten war.
"Das gilt auch für Dobrindt selbst""Die grobe Formel lautet: Je deutlicher die Rechtswidrigkeit, desto höher das Strafbarkeitsrisiko", sagt Heinemann. Mit der Entscheidung eines einzigen Verwaltungsgerichts mag das Risiko aktuell noch überschaubar sein. "Das ändert sich jedoch, wenn andere Verwaltungsgerichte ähnlich entscheiden. Und davon gehe ich aus." Zumal sich jüngst sogar Bundesjustizministerin Stefanie Hubig deutlich in diese Richtung aussprach. Die Regierung müsse sich selbstverständlich an Gerichtsentscheidungen halten, schrieb sie auf der Homepage des Ministeriums. "Deshalb ist klar: Die Eilentscheidungen des Berliner Verwaltungsgerichts müssen befolgt werden."
Je länger Dobrindt an seiner Anordnung für die Zurückweisungen an der Grenze festhält, desto größer wird die Bredouille für seine Bundesbeamten. "Ab einem gewissen Punkt könnten auch Remonstrationen nicht mehr helfen, die eigene Verantwortung auszuhebeln", fügt Heinemann hinzu. "Das gilt übrigens auch für Dobrindt selbst." Im Gegensatz zu Donald Trump in den USA können Regierungsmitglieder hierzulande für rechtswidriges Handeln auch strafrechtlich belangt werden. Mögliche weitere Gerichtsurteile zu ignorieren, sollte für den Minister also keine Option sein - aus rechtsstaatlichem und persönlichem Interesse.
Quelle: ntv.de
n-tv.de