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Würde es die Berliner Zeitung nicht geben, man müsste sie erfinden

Würde es die Berliner Zeitung nicht geben, man müsste sie erfinden

Die Berliner Zeitung feiert 80. Geburtstag. Ihr kritischer Geist wird mehr denn je gebraucht. Ein Kommentar des Chefredakteurs der Berliner Zeitung.

Die Berliner Zeitung ist 80 Jahre alt geworden. Grund zum Feiern!Pajović/Berliner Zeitung am Wochenende

„Berlin lebt auf!“ So titelte die Berliner Zeitung am 21. Mai 1945. Es war die erste Ausgabe der Berliner Zeitung, die zwischen Zerstörung und Aufbruch in Ost-Berlin entstand. Nun feiert die Berliner Zeitung ihren 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass erscheint am Sonnabend (24. Mai 2025) eine Sonderausgabe der Berliner Zeitung, die sich dem Aufbruch widmet. Hier lesen Sie als Auftakt einen Text von Chefredakteur Tomasz Kurianowicz, der die publizistischen Schwerpunkte der Berliner Zeitung beschreibt. Die Sonderausgabe der Berliner Zeitung zum 80. Geburtstag finden Sie am 24. und 25. Mai 2025 am Kiosk oder alle Texte online auf berliner-zeitung.de. Ein Abo der Berliner Zeitung gibt es hier.

Wie sollte der ideale Journalist sein? Er sollte kritisch sein, staatsfern, mutig, nicht korrumpierbar, wach und vor allem: jeder Ideologie gegenüber skeptisch gesinnt. Er sollte sich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten, sich selbst und seine Quellen immer hinterfragen, fähig dazu sein, die eigene Meinung zu ändern, bereit sein, auch mit jenen zu sprechen, denen er nicht vertraut (oder die er nicht mag) und mit offenen Augen durch die Welt laufen. Ein schlechter Journalist ist Ideologe, hat seine Meinung schon gefällt, bevor er recherchiert, ist Kämpfer für ein Programm – Aktivist und nicht Berichterstatter.Die Berliner Zeitung ist ein Ort für einen kritischen Journalismus, ein Ort für Menschen, die täglich darum ringen, dem Anspruch möglichst neutraler Berichterstattung gerecht zu werden. Nun feiert diese Zeitung ihren 80. Geburtstag, kann dabei auf eine lange, stolze Tradition blicken, in der das Austarieren von Freiheitsräumen immer schon eine besondere Rolle gespielt hat. Selbst in der DDR war die Berliner Zeitung ein Blatt, in dem man vorsichtig über den Tellerrand blicken, Autoritäten herausfordern, das staatlich Verordnete hinterfragen und den kritischen Geist anspitzen konnte, wo auf der Linie zwischen Erlaubtem und politisch Bekämpftem vorsichtig balanciert wurde. Heute treiben wir diese Renitenz – als Zeitung im Herzen der Stadt – in einem wiedervereinigten und freien Berlin weiter, manchmal auch auf die Spitze. Aus einem Grund: um die politischen Freiheiten, die uns die Wende geschenkt hat, zu verteidigen. Darauf bin ich als Chefredakteur der Berliner Zeitung stolz.

Ich bin überzeugt davon: Würde es die Berliner Zeitung nicht geben, müsste man sie erfinden. Eine Redaktion, in der Menschen mit verschiedenen Standpunkten, Biografien, Einstellungen zusammenkommen und mit divergierenden Perspektiven den Lesern ein allumfassendes Bild der Wirklichkeit bieten, ist ein Geschenk. Auch das muss gesagt werden: Es gab kaum eine Zeit seit der Wende, in der kritischer Journalismus so sehr gebraucht wurde wie heute. Jetzt, da die Grüppchenbildung zunimmt, sich zahllose Echokammern bilden, andere Meinungen lieber bekämpft statt als legitimer anderer Standpunkt akzeptiert werden, braucht es einen Journalismus, der Brücken baut über die Gräben und den Blick über den Tellerrand ermöglicht. Soziale Medien, gesteuert über Algorithmen, sind nicht das geeignete Medium für diese Aufgabe.

Wer den Reformbedarf Deutschlands ignoriert, überlässt das Spielfeld der AfD

Ein Schriftsteller hat mal gesagt, dass Journalismus dazu da sei, die Welt ein wenig nach links zu drehen, wenn sie nach rechts abdriftet, und sie nach rechts zu drehen, wenn sie zu sehr nach links kippt. Journalismus als Korrektiv, als Instanz, die den Zeitgeist prüft, ist genauso wichtig wie ein Journalismus, der in einer liberalen Demokratie auch jene in den Diskurs holt, die am Tisch der Mächtigen keinen Platz finden, egal von welcher Seite sie kommen.Die Zeiten sind kompliziert und von Kulturkämpfen geprägt, die den Journalismus nicht unberührt lassen. Der Journalismus hat sich aus Angst vor Veränderung und wegen der Erosion etablierter Strukturen teilweise zu einem Verteidigungsinstrument des Bestehenden gewandelt. Ich kenne die Gründe. In einer Zeit, in der Demokratien auf dem Prüfstand stehen (auch durch die eigene Bevölkerung) und autoritäre Tendenzen um sich greifen, mutiert der Journalist, der die Demokratie verteidigen will, manchmal zum Kämpfer für das Altbewährte und vergisst, dass er auch Spiegel für das notwendige Neue sein kann.

Ich möchte ein Beispiel mit Bezug auf Deutschland geben: Es ist nicht immer klar zu sagen, ob ein Journalist, der für „Mehr Demokratie!“ auf die Straße geht und gegen die AfD protestiert, die demokratische Vielfalt und die freie Meinungs- und Willensbildung verteidigt – oder ob er für festgefahrene Strukturen einsteht, die eigentlich einer Reform bedürfen, um noch für einen großen Teil der wählenden Bevölkerung attraktiv zu bleiben. Ich bin überzeugt davon, dass alle, die den Ist-Zustand unserer Gesellschaft nüchtern betrachten, zu einem ähnlichen Urteil kommen müssten wie ich: Wer den wirtschaftlichen, aber auch gesellschaftlich notwendigen Reformbedarf Deutschlands ignoriert, überlässt das Spielfeld der AfD.

Heute würde ich sagen: Don‘t shoot the messenger

Das Überbringen unangenehmer, schmerzvoller Informationen ist in den vergangenen Jahren zum Kern der Berichterstattung der Berliner Zeitung geworden. Ich möchte nur anekdotisch einige Beispiele nennen: Schon früh hat die Redaktion über mögliche Kollateralschäden der Pandemiepolitik gewarnt. Schon früh haben Autoren der Berliner Zeitung über einen wahrscheinlichen zweiten Wahlsieg von Donald Trump nachgedacht. Dass in Meinungsbeiträgen und Berichten diskutiert wurde, ob die Ukraine eine kriegerische Auseinandersetzung mit einem aggressiven und auch atomar hochgerüsteten Russland gewinnen kann – und ob es eine Alternative zur Politik des Westens gibt, um die imperiale Expansion des Kreml einzudämmen; eine Alternative zu einer Strategie, die auch Eskalationspotential birgt –, hat immer wieder zu harschen, oft auch unfairen Reaktionen geführt. Als würde die Polemik gegenüber Teilen unserer Berichterstattung, je härter sie ausfällt, die Wirklichkeit von ihrer Komplexität und ihren Widersprüchen befreien. Das tut sie nicht. Daher ist es umso wichtiger, offen über Chancen und Risiken politischer Entscheidungen zu diskutieren, auch wenn es weh tut.

Heute würde ich sagen: Don‘t shoot the messenger. Donald Trump ist wieder Präsident der USA, die Ukraine hat den Krieg noch nicht gewonnen, die New York Times schreibt Leitartikel, in denen sie beklagt, über Corona und den Ursprung des Virus von der US-Regierung betrogen worden zu sein. Zudem beobachten wir (auch darüber hat die Berliner Zeitung mehrfach berichtet) ein Erstarken Chinas und des globalen Südens – und erleben das Selbstbewusstsein eines expansiven Russlands, das militärischen Expertisen zufolge über die notwendigen Reserven verfügt, um den Angriffskrieg gegen die Ukraine auch in diesem Jahr fortzusetzen und dabei den Druck auf die EU zu erhöhen.

Wir bei der Berliner Zeitung spiegeln Risiken und Chancen der politischen Gegenwart

Der Journalist kann den Zustand dieser Realitäten beklagen, aber er kann nicht die Augen davor verschließen, wie sich die Welt entwickelt. Ansonsten gerinnt Journalismus zu reinem Wunschdenken, im schlimmsten Fall zu einer Abspielform von Propaganda, die den Leser über die Brüche und Widersprüche des eigenen Blickwinkels im Unklaren lässt, ob aus Absicht oder Unwillen. Wir bei der Berliner Zeitung spiegeln Risiken und Chancen der politischen Gegenwart, diskutieren sie, loten Lösungswege aus, auch ungemütliche, schwierige, unpopuläre, mit dem unstillbaren Willen, einen Weg zu zeichnen, wie wir Menschen in Berlin, Deutschland und Europa weiterhin in Frieden und Freiheit leben und als Teile der Gesellschaft koexistieren können. Vieles, wovor Texte der Berliner Zeitung in der Vergangenheit gewarnt haben, ist eingetroffen. Und wenn ich dies etwas keck formulieren darf: Hätten manche Entscheidungsträger unsere Berichterstattung genauer verfolgt, wären sie auf schwierige Situationen vielleicht besser vorbereitet gewesen, als wir das heute im politischen Berlin erleben. Auch davon zeugt diese Sonderausgabe.

Das ausgeprägte Problembewusstsein der Berliner Zeitung, das auf der Fähigkeit zum Multiperspektivismus basiert, hat sicher mit unserer wechselvollen 80-jährigen Geschichte zu tun. Aber vor allem damit, dass hier Menschen arbeiten, die sich mit Brüchen und Erfolgen, Chancen und Risiken sehr gut auskennen. Die Berliner Zeitung ist als eines der wenigen bundesrepublikanischen Medien in ostdeutscher Hand, der Berliner Verlag wurde vor sechs Jahren von Silke und Holger Friedrich erworben. Das ist nicht trivial, sondern ein Pfund.

Die Brüche und Transformationserfahrungen, die die Menschen hinter der Berliner Zeitung erlebt und oft zu Erfolgsgeschichten umgemünzt haben, sollten bei unserer Konkurrenz nicht zu Abwehrhaltungen führen, sondern Neugier wecken für das, was wir zum Diskurs beitragen können. 80 Jahre nach Gründung der Berliner Zeitung und 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs braucht es eine breite, ergebnisoffene Debatte über die Bedingungen, wie wir dieses sich rasant verändernde Deutschland in Zukunft gestalten wollen. Diese Diskussion sollte alle Bereiche der Gesellschaft mit einschließen. In Ost- wie in Westdeutschland.Damit das gelingt, müssen wir zueinanderfinden, uns respektvoll gegenübertreten, Differenzen offen ausdiskutieren, gerne auch kontrovers. Die Berliner Zeitung lädt dazu ein, sich dieser Diskussion zu stellen und ergebnisoffen über Lösungen zu diskutieren, um Möglichkeitsräume zu öffnen und den Weg für eine friedliche Zukunft zu sichern. Dafür arbeiten wir jeden Tag, mit ganzer Kraft, mit Engagement und Mut. Für eine offene, lebendige und anderen Meinungen gegenüber aufgeschlossene Gesellschaft.

Tomasz Kurianowicz ist Chefredakteur der Berliner Zeitung.

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