Zwei deutsche Leben: Was Westflüchtling und DDR-Grenzsoldat zu besprechen haben

Was für Biografien! Mit „Wow“ kommentiert man so was heute. Zwei Männer, ziemlich gleich alt: er, Günter Polauke, Jahrgang 1948, ich, Berthold Dücker, Jahrgang 1947, Autor dieses Textes. Beide in die SBZ (Sowjetische Besatzungszone) hineingeboren, aus der 1949 die DDR wurde. Treffender müsste es heißen: In den 40-jährigen Kalten Krieg hineingeboren, weil der beide, den Berliner wie den Thüringer, nachhaltig geprägt hat – bis heute, wie ihre erstmalige Begegnung im Sommer 2025 deutlich werden ließ.
Günter blieb sein Leben lang zu Hause, fühlte sich in seiner Heimat geborgen und wohl. Auch politisch. Berthold verließ 16-jährig seine Heimat, die für ihn immer und bis heute die „geliebte Heimat“ war – er wiederholt das gern –, die er aber schon früh nicht mehr als „sein Land“ empfand. Sie war ihm zu eng geworden, in vielerlei Hinsicht. Seine christliche Erziehung und politische Prägung, vor allem durch seinen Vater, haben wohl entscheidend dazu beigetragen.
Er kam irgendwann auch nicht mehr zurecht mit den zwei „Wahrheiten“, in denen er zu leben hatte, um zurechtzukommen, um nicht anzuecken: Da gab es die täglich erlebte Wahrheit, die ja doch die Wirklichkeit war. Und auf der anderen Seite die staatlich verordnete, die mit der Tatsächlichkeit eher herzlich wenig zu tun hatte. Und in der Regel hatten die beiden „Wahrheiten“ rein gar nichts miteinander zu tun, so krass widersprüchlich, wie sie nun mal waren. Da passte nichts mehr zusammen. Propaganda („Agitprop“) und Lüge bestimmten, beherrschten das realsozialistische Feld.
Der 16-Jährige kroch durchs Minenfeld in die FreiheitDer Junge wollte sich partout nicht arrangieren. Dann keimte in ihm der Wunsch, Journalist zu werden. Genährt durch den höchst verpönten Konsum des Westfernsehens. Diktatoren fürchten nichts mehr als die Wahrheit. Das ist auch heute noch so.
Freier und selbstbestimmter Journalist in einem Land ohne Meinungsfreiheit, ohne freie Medien? Wie sollte das gehen? Also kroch er 1964 durch das Minenfeld dorthin, wo das möglich war: in den Westen Deutschlands, in ein damals für ihn in nahezu jeder Hinsicht fremdes Land. So schwer der Anfang für ihn auch war, er hat den Schritt nie bereut.

Ganz anders verlief Günter Polaukes deutsches Leben. Auch er ist tief geprägt von seiner Erziehung, seinen so ganz anderen Erfahrungen. Beide, inzwischen jenseits der 75, schleppen jetzt diesen prall gefüllten, drückenden Erlebensrucksack mit sich herum. Und tragen offensichtlich schwer daran. Sie kramen darin herum, versuchen etwas Ordnung hineinzubringen, vielleicht irgendwas Greifbares zu finden, auch Klärung. Sie suchen nach Antworten. Nach Erklärung. Und nach Verstehen. Vor allem nach Verstehen.
Was ist da alles zusammengekommen über die vielen Jahre?
Günter vermittelt 35 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands noch immer eher den Eindruck, vielleicht doch im „besseren“ Teil Deutschlands gelebt zu haben: „Es war nicht alles schlecht“ und so. Vielleicht hätte man dem „Sozialismus“ in der DDR doch besser eine (zweite?) Chance geben sollen, damals, spätestens Ende der 1980er-Jahre, als alles begann zusammenzukrachen. Da schimmert noch immer Verklärung durch.
Die Unterschiede bleiben deutlichAuch Scham? Stasi, Diktatur, na ja. Mag ja alles sein. War auch nicht besonders prickelnd. Aber sind das heute nicht eher vereinfachende Schlagworte, Totschlagargumente? Günter Polaukes Systemkritik fällt differenziert aus, was seinen Gesprächspartner in der Gedenkstätte Point Alpha nicht überrascht. Der kennt das, auch wenn es ihm zunehmend schwerer fällt, das zu verstehen, nach all der Zeit, nach all den großen und kleinen Tragödien, die doch nun mal geschehen sind. Und sich andernorts noch immer ereignen! Ist das nicht irre? Auch die nach wie vor deutlich spürbare Nähe zum großen Bruder im Osten und dessen teuflisches Treiben heute.
Berthold Dücker ist da deutlich klarer. Und als Journalist um größtmögliche Objektivität bemüht. Bewertungen in die eine wie in die andere Richtung, auch scharfe Urteile fallen ihm offenbar leichter. Wohl weil er, um Jahrzehnte länger als Günter, beide Seiten kennengelernt hat, ohne je seine intensive Liebe zu seiner thüringischen Heimat verloren zu haben. Er ist auch im Westen stets Thüringer geblieben.
Ihm ist deshalb wichtig, immer wieder zu betonen, dass seine DDR-Kritik „einzig das perfide SED-Regime“ betreffe, aber niemals das individuelle Leben der Menschen in diesem „ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“. Denn das sei möglicherweise „wertvoller“ gewesen als das Leben der Landsleute im Westen, „weil es unter erschwerten Bedingungen zu leben“ gewesen sei.
Dass „die“ an der Grenze jahrzehntelang auf Menschen wie auf Hasen geschossen hätten, kontert Günter, könne er, zumal als ehemaliger Grenzer, „so nicht“ unbedingt sehen. Und so weiter. Ob nun die DDR ein „menschenverachtender Unrechtsstaat“ gewesen ist oder nicht, bleibt eine bis heute (!) strittige Feststellung. Diese am Ende doch wichtige Frage zwischen beiden Herren auch nur halbwegs zu klären, dazu reichte die Zeit dieser ersten Begegnung bedauerlicherweise nicht. Aber noch ist nicht aller Tage Abend …

Doch beide Herren sind ausgesprochen gelöst in dieser ersten Begegnung, wie eine Servicekraft der Cafeteria der Gedenkstätte Point Alpha feststellte. „Als hätten sich da zwei gute, alte Bekannte nach langer Zeit wiedergetroffen.“ Zwei Zeugen halt, Zeugen ein und derselben Zeit.
Gelöst ist gut! Eher losgelöst von ihren doch so unterschiedlichen Vergangenheiten, Werdegängen und Erfahrungen. Dafür wohl auch offener, freier, freimütiger. Zueinander, übereinander, miteinander. Sie haben alles überlebt. Der eine hier, der andere dort. Aber gemeinsam in einem Deutschland. Mittlerweile scheinen sie deshalb auch im Reinen mit sich und der durchaus schönen, zu oft aber auch durchgeknallten Welt. Ein Fortschritt!
Einig war man sich relativ bald darüber, dass in der Turbulenz von 1989/90 logischerweise nicht alles optimal gelaufen ist. Nicht optimal laufen konnte! Zu lange war das Land in zwei so unterschiedliche Gesellschaftsformen geteilt. Es gab nun mal kein Rezept dafür, kein weltgeschichtliches Beispiel, an dem man sich irgendwie hätte orientieren können, wie eine „Wiedervereinigung“ möglichst schonend zu managen sei. Dücker zitiert dazu einen klugen Satz von Bernhard Vogel: „Ja, wir im Westen hatten ein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen. Aber leider keins für gesamtdeutsche Antworten.“
Beide Herren weitgehend versöhntGleichwohl scheinen beide Herren heute weitgehend versöhnt. Mit sich selbst sowieso. Wohl auch zufrieden mit dem Gesamtergebnis, 35 Jahre danach. Und wenn man den Grenzwanderer so sieht, wie er mit seinen 76 Jahren heute unbeschwert hin und her springen kann zwischen den einst geteilten Welten, ohne dass auch nur ein befohlener Schuss fällt, dann ist er wohl auch glücklich. Er vermittelt diesen Eindruck zu 100 Prozent.
Der andere ist es sowieso. Wie lange sie beide es nun schon sind, muss nun wirklich keine Rolle mehr spielen. Ist am Ende wurscht. Die Hauptsache ist doch, dass sie heute glücklich sind, der Grenzer und der Flüchtling, die heute beide froh und dankbar dafür sind, sich damals nicht begegnet zu sein.
Spontan einig sind Günter Polauke und Berthold Dücker in einer Frage: Nicht nur sie beide müssen unbedingt im Gespräch bleiben. Das ganze, nach wie vor geteilte deutsche Heimatland muss endlich (wieder) miteinander ins Gespräch kommen! Da ist zunächst vor allem eine Verständigung darüber zu erzielen, dass wir mitnichten nur an den Folgen der Wiedervereinigung zu leiden haben, sondern ursächlich vor allem unter den Folgen der vier Jahrzehnte währenden schrecklichen wie unnötigen Spaltung.
Wir müssen uns das endlich eingestehen. Auch wenn es schmerzt. Haben wir uns 1989/90 nicht wechselseitig versprochen, uns zum besseren gegenseitigen Verstehen ausführlich unsere so unterschiedlichen Biografien zu erzählen? Er ist aus tausend guten wie schlechten Gründen weitgehend unterblieben. Bei allem, was doch auch gelungen ist!
Eigentlich sollte Berthold Dücker in Regensburg zum 72. Jahrestag des ersten Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953 eine Rede halten. Die Veranstaltung wurde bedauerlicherweise kurzfristig abgesagt. Diese Schlusssätze hatte er sich für seinen Auftritt vorgenommen:
„Unser Land ist noch immer zerrissen, wie uns die bedrückenden Wahlergebnisse doch zeigen. Wir müssen miteinander ins Gespräch kommen. Dringend. Es gibt keine andere Lösung, um endlich auch inneren Frieden zu finden. Ich appelliere an alle Verantwortungsträger im Land, im Osten wie im Westen, im Norden wie im Süden: Macht euch diese unerlässliche Aufgabe zur Chefsache! Grenzübergreifende Städtepartnerschaften zum Beispiel, gezielt organisierte Begegnungen, insbesondere unter jungen Menschen, haben einst im geteilten Deutschland geholfen und sie haben auch Europa zusammengeführt. Und sie haben damit für die längste Friedensperiode auf unserem Kontinent gesorgt. Da haben wir doch die guten Beispiele, die Erfolgsrezepte auch, wie es gehen kann! Wie es nur gehen kann!“
Dankbar berührt. Warum?„Dankbar berührt“ fühlt sich Berthold Dücker über die Begegnung mit dem Zeitzeugen Günter Polauke auf Point Alpha, dieser sehr, sehr deutschen Gedenkstätte. Vor allem unsere Jugend sollte in Scharen dorthin gehen, um im doppelten Wortsinn begreifen zu können, was wir uns nach der zwölfjährigen braunen Diktatur noch an Schrecklichem geleistet haben – mehr als 40 Jahre lang. Mitten in Deutschland. Welch ein Glück, dass dieser Spuk vorbei ist!
Dücker ist dankbar berührt, weil die Begegnung ausgerechnet an einem Stück der einst tödlichen Grenze stattfand, das heute Teil des idyllisch-friedlichen Unesco-Biosphärenreservats Rhön ist. Und weil er dort in Günter Polauke einem sensiblen, gern nachdenkenden und also lernbereiten Menschen begegnet ist. Sonst würde er als ehemaliger Grenzsoldat heute wohl kaum auf dem ehemals kreuzgefährlichen Grenzstreifen so vermeintlich unbeschwert herumspazieren, dort gern mit allen möglichen Menschen sprechen wollen, die ihm dort zufällig über den Weg laufen.
Dücker ist dankbar berührt, auch weil er mal wieder einem aufgeschlossenen Menschen ohne Scheuklappen und mit weit geöffneten Augen und Ohren begegnen durfte, der so gern erzählt, wie er auch zuhören kann. Eine selten gewordene Eigenschaft! Seinem Gesprächspartner wie sich selbst wünscht er eine erkenntnisreiche Wanderschaft durch das spannende deutsch-deutsche Leben.
Berliner-zeitung