Sprache auswählen

German

Down Icon

Land auswählen

Germany

Down Icon

ERKLÄRT - Klage gegen die Schweiz: Die frühere Leichtathletin Caster Semenya feiert in Strassburg einen Teilerfolg

ERKLÄRT - Klage gegen die Schweiz: Die frühere Leichtathletin Caster Semenya feiert in Strassburg einen Teilerfolg
Hat keine persönliche Verbindung zur Schweiz: die südafrikanische Läuferin Caster Semenya.

Sie ist Südafrikanerin, wohnt in Südafrika und hat keine persönlichen Verbindungen zur Schweiz. Gleichwohl hat die frühere Mittelstreckenläuferin Caster Semenya vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz eingeklagt und zum Teil recht erhalten. Die grosse Kammer des EGMR ist mit 15 zu 2 Stimmen der Meinung, dass das Bundesgericht in Lausanne Caster Semenyas Recht auf ein faires Verfahren verletzt hat. Die Schweiz muss ihr 80 000 Euro für ihre Auslagen zahlen. Abgelehnt hat der Gerichtshof dagegen Semenyas Hauptbeschwerde, dass sie durch die Testosteronregel diskriminiert werde.

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Zur Vorgeschichte: World Athletics, der Leichtathletik-Weltverband, erliess im April 2018 ein neues Reglement, das die Voraussetzungen regelt, unter denen Athletinnen mit abweichender Geschlechtsentwicklung wie Semenya an internationalen Frauenwettkämpfen teilnehmen dürfen. Das Reglement verlangt von den betroffenen Athletinnen, ihren Testosteronspiegel medikamentös zu senken. Da sich Semenya weigerte, sich einer solchen Behandlung zu unterziehen, konnte sie nicht mehr an internationalen Wettkämpfen teilnehmen.

Semenya, die heute 34 Jahre alt und vom Spitzensport zurückgetreten ist, rekurrierte beim Internationalen Sportgerichtshof (TAS) in Lausanne erfolglos gegen das Reglement. Das Gericht kam im Wesentlichen zu dem Schluss, dass die Zulassungsbedingungen erforderlich, zumutbar und verhältnismässig seien. Das Bundesgericht stützte den Entscheid. Es konnte das Urteil des Sportgerichtshofs nicht frei überprüfen, sondern musste sich von Gesetzes wegen auf die Frage beschränken, ob der Entscheid gegen grundlegende und weithin anerkannte Prinzipien der Rechtsordnung, den sogenannten Ordre public, verstosse. Das sei nicht der Fall, so sein Schluss. «Die Fairness beim sportlichen Wettkampf ist ein legitimes Anliegen und bildet ein zentrales Prinzip des Sports», hielt das Bundesgericht in seinem Urteil 2020 fest.

Semenya akzeptierte den Entscheid nicht und klagte die Schweiz beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) an. Dort brachte sie unter anderem vor, dass sie als Frau mit natürlich erhöhtem Testosteronspiegel diskriminiert und ihrer Würde verletzt werde. Eine Abteilung des Strassburger Gerichtshofs gab ihr 2023 recht und rügte die Schweiz.

Der Bundesrat war mit diesem Urteil nicht einverstanden. Er zog den Fall vor die grosse Kammer in Strassburg und argumentierte unter anderem dahin gehend, dass der Fall beziehungsweise die fragliche Testosteronregel mit der Schweiz nichts zu tun habe. Der einzige Bezugspunkt sei der Umstand, dass das Sportgericht seinen Sitz in Lausanne habe und das Schiedsverfahren dort durchgeführt worden sei. Der Sachverhalt, um den es gehe, habe vollständig ausserhalb der Schweiz stattgefunden.

Recht auf faires Verfahren verletzt

Die grosse Kammer anerkennt die Einwände der Schweiz zwar, kommt aber dennoch zu einem anderen Schluss. Indem Semenya beim Bundesgericht Beschwerde gegen den Entscheid des TAS eingereicht habe, sei eine juristische Verbindung zur Schweiz entstanden. Das Bundesgericht wäre deshalb verpflichtet gewesen, der Sportlerin ein faires Verfahren zu garantieren. Zwischen Sportlern und den Leitungsorganen bestehe ein strukturelles Ungleichgewicht, was eine besonders strenge gerichtliche Prüfung ihrer Sache erfordere. Das Bundesgericht habe sich lediglich auf die Ordre-public-Prüfung beschränkt, was ungenügend sei.

Das Urteil ist ein Teilerfolg für Semenya. Die Testosteronregel an sich wurde vom Gerichtshof nicht gerügt. Was den Vorwurf der Diskriminierung angeht, den die Sportlerin erhebt, sieht der EGMR keine Zuständigkeit der Schweiz gegeben.

Wer ist Caster Semenya?

Caster Semenya ist eine frühere Mittelstreckenläuferin. Sie wurde am 7. Januar 1991 in der Provinz Limpopo im Norden Südafrikas geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Schon früh zeigte sich ihr sportliches Talent. 2009 erregte sie mit 18 Jahren erstmals international Aufsehen. Damals wurde sie in Berlin überraschend Weltmeisterin über 800 Meter. In der gleichen Disziplin gewann Semenya später an den Olympischen Spielen 2012 in London und 2016 in Rio de Janeiro die Goldmedaille.

Doch ihr plötzlicher Aufstieg geriet schnell in den Schatten einer Debatte, die weit über den Sport hinausreichte.

Noch während der Weltmeisterschaft 2009 ordnete World Athletics, der damals noch Internationaler Leichtathletikverband (IAAF) hiess, mehrere Tests zur Überprüfung von Semenyas Geschlecht an. Die medizinischen Tests und ihre mediale Begleitung lösten weltweit Empörung aus. Damit begann einer der umstrittensten Fälle der modernen Sportgeschichte.

Caster Semenya ist Weltmeisterin und zweifache Olympiasiegerin über 800 Meter.

Jean-Christophe Bott / Keystone

Weshalb gilt Semenya als intersexuell?

Semenya ist als Frau aufgewachsen, wurde als solche sozialisiert und ist auch gemäss Pass eine Frau. Wegen einer Geburtsanomalie hat sie aber männliche XY-Chromosomen – biologisch ist Semenya also ein Mann, sie gilt entsprechend als intersexuell. Diese Anomalien werden unter dem Fachbegriff DSD-Syndrom zusammengefasst.

Das Problem im Sport: Athletinnen wie Semenya verfügen über erhöhte Testosteronwerte im Blut. Es ist erwiesen, dass das männliche Sexualhormon die Leistungsfähigkeit steigert. Verschiedene Studien belegen einen Vorteil gegenüber biologischen Frauen von 5 Prozent in den Laufwettbewerben und eine noch grössere Diskrepanz bei Wurf- und Sprungdisziplinen.

Hat sie wegen erhöhter Testosteronwerte einen Vorteil gegenüber anderen Läuferinnen? Caster Semenya im Halbfinal über 800 Meter an den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro.
Welche Massnahmen hat der Leichtathletik-Weltverband World Athletics ergriffen?

Der Sport sucht immer noch allgemeingültige Regeln für den Umgang mit intersexuellen Athletinnen. In Semenyas Fall ordnete World Athletics nach dem WM-Titel 2009 einen Geschlechtstest sowie ein Startverbot an. Die Resultate wurden nie offiziell veröffentlicht, es sickerte jedoch durch, dass Semenya unter dem DSD-Syndrom leidet. Trotzdem durfte sie im Jahr danach wieder bei den Frauen starten.

World Athletics führte 2014 eine Testosteronobergrenze in den Frauenkategorien ein. Intersexuelle Athletinnen mussten den Testosteronspiegel mit Medikamenten oder einer Operation senken, zum Beispiel durch die Einnahme der Antibabypille. Neuere wissenschaftliche Studien haben aber erwiesen, dass gewisse körperliche Vorteile nach einer männlichen Pubertät bestehen bleiben – trotz Senkung des Testosteronwertes.

World Athletics wird diese Regel deshalb in naher Zukunft abschaffen. Der Präsident Sebastian Coe kündigte im vergangenen Frühjahr an, wer künftig bei den Frauen starten wolle, müsse sich einmalig einem DNA-Test zur Bestimmung des biologischen Geschlechts unterziehen. Das gilt auch für Sportlerinnen, bei denen das biologische Geschlecht unbestritten ist. World Athletics ist der erste Verband einer olympischen Sportart, welcher diese Reihentests einführt.

Caster Semenya feiert in Rio de Janeiro ihre zweite Goldmedaille an Olympischen Spielen.
Warum hat Caster Semenya die Gerichte angerufen?

Semenya wehrte sich 2018 vor dem Internationalen Sportgerichtshof (TAS) in Lausanne gegen die Regeln von World Athletics. Sie sah sich in ihren Rechten verletzt. Eine Hormontherapie, um ihre Testosteronwerte zu senken, lehnte sie ab.

Semenya erklärte, sie sei als Frau geboren, habe nie gedopt und keine Regeln verletzt. Der Ausschluss vom Wettkampf allein wegen ihrer natürlichen körperlichen Merkmale sei unzulässig. Sie argumentierte, es gehe nicht nur um ihre Karriere, sondern um das Recht aller Athletinnen, unabhängig von genetischen oder hormonellen Besonderheiten fair behandelt zu werden.

Der TAS wies die Beschwerde zurück. Das Gericht schrieb in seinem Urteil, dass eine Testosteronobergrenze legitim sei, auch wenn sie für Intersexuelle diskriminierend sei. Semenya zog an das Bundesgericht weiter, scheiterte dort aber ebenfalls.

Schliesslich reichte Semenya 2021 Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Dieser urteilte 2023, dass Semenya durch die Verbandsregeln diskriminiert worden sei. Dem hatten aber nur 4 der 7 Richter zugestimmt. Wegen der knappen Mehrheit hatte die Schweizer Bundesregierung eine erneute Verhandlung vor der aus 17 Richtern bestehenden grossen Kammer beantragt.

Diese kam nun zu dem Schluss, dass Semenya von der Schweiz in ihrem Menschenrecht auf ein faires Verfahren verletzt worden sei. Die umstrittenen Testosteronregeln liess es unangetastet.

Was sind die juristischen Auswirkungen des EGMR-Urteils?

Das abschliessende Urteil des EGMR eröffnet Semenya die Möglichkeit, ihren Fall erneut vor Schweizer Gerichte zu bringen. Mit der Auflage, dass er diesmal gründlich und fair geprüft werden muss. Die Testosteronregel von World Athletics bleibt jedoch in Kraft. Intersexuelle Athleten dürfen weiterhin nur dann an internationalen Rennen zwischen 400 Metern und einer Meile teilnehmen, wenn sie ihre Testosteronwerte medikamentös senken.

Trotzdem bedeutet das Urteil einen juristischen Meilenstein für Caster Semenya. Es stärkt die Rechte von Athletinnen mit Unterschieden in der Geschlechtsentwicklung. Und es setzt einen Massstab, wie Sportgerichte und nationale Instanzen humanitäre und verfahrensrechtliche Standards einhalten müssen.

nzz.ch

nzz.ch

Ähnliche Nachrichten

Alle News
Animated ArrowAnimated ArrowAnimated Arrow