Hertha BSC: Die Spieler sollten sich ein Beispiel an den DFB-Frauen nehmen

Die Botschaften waren deutlich: „Wir holen drei Punkte! Wir spielen auf Sieg! Wir sind die Aufstiegsfavoriten!“ So tönte es aus dem Kreis der Profis von Hertha BSC. Selten ist eine Mannschaft von Hertha so optimistisch und selbstbewusst zum alten Rivalen Schalke 04 gereist wie am ersten Spieltag der neuen Saison. Dabei war Schalke – egal ob im alten Parkstadion oder später in der modernen Arena – für Hertha immer ein heißes Pflaster. Seitdem die Verantwortlichen in Westend das Saisonziel „Aufstieg“ verkündet hatten – was ich für absolut richtig halte –, gingen Spieler und Trainer, die diese Vorgabe auch selbst formulierten, mit breiter Brust nach Gelsenkirchen. Was dann passierte, konnte niemand schlüssig erklären.
Cheftrainer Stefan Leitl nahm gar zum ersten Mal ein Wort, das mit „Sch…“ beginnt, in den Mund. Als die Schalker Profis äußerst robust und giftig ins Spiel gingen, erstarrten die Favoriten wie das Kaninchen vor der Schlange, bekamen lange kein Bein auf den Rasen, sorgten für arge Ernüchterung statt für die ersehnte erste Euphorie-Welle.
Ich weiß, dieser Vergleich hinkt, aber mir kam nach dem fünften Fehlstart von Hertha in Serie kurioserweise der einst beste westdeutsche Zehnkämpfer Jürgen Hingsen in den Sinn. Der Olympia-Zweite von 1984 reiste als Favorit und Weltrekordler 1988 zu den Olympischen Spielen nach Seoul und fabrizierte in der ersten Disziplin des Zehnkampfes, dem 100-Meter-Lauf, drei Fehlstarts und wurde disqualifiziert. Aus der Traum vom Gold!
Nun kann Hertha natürlich weiter vom Aufstieg träumen, obwohl man – um bei Hingsen zu bleiben – auch einen Fehlstart hingelegt hat, einen völlig unerwarteten noch dazu. Dennoch gilt die alte Weisheit: Nach dem ersten Spieltag ist noch keine Mannschaft abgestiegen und noch niemand Meister geworden.
Die Hertha-Profis sind keine notorischen FehlstarterDr. Gerd Driehorst, einst Ende der 1990er-Jahre bei Hertha der erste Mentalcoach der Bundesliga (heute Coach von Führungskräften), sagte mir: „Das erste Spiel ist für die Stimmung wichtig, für den Kopf. Ein Auftaktsieg kann die Mannschaft tragen, aber eine Niederlage ist keine Katastrophe. Hertha war in diesem Hexenkessel auf Schalke von Gegner und Atmosphäre total beeindruckt, hatte keine Widerstandskraft.“ Dennoch sieht Driehorst das Ziel „Aufstieg“ als vollkommen richtig an. „Aber man muss auch wissen: Das ist kein Selbstgänger und erfordert jeden Tag knallharte Arbeit.“
Ist Hertha nun ein notorischer Fehlstarter? Wenn man alle ersten Spieltage seit dem Wiederaufstieg 1997/98 betrachtet, lautet die Antwort: Nein! Das Versagen am ersten Spieltag hat sich erst in den zurückliegenden Jahren bei Hertha eingenistet. Inklusive der jüngsten Pleite auf Schalke hat man unter vier verschiedenen Trainern fünfmal das Auftaktspiel verloren. Nie folgte danach eine erfolgreiche Spielzeit.
Die Gesamtbilanz seit 1997/98 sieht dagegen freundlicher aus: Am ersten Spieltag gab es elf Siege, acht Unentschieden und neun Niederlagen. Auftaktsiege oder Pleiten hatten tatsächlich sehr unterschiedliche Auswirkungen. 2003/04 brach sich Ausnahmespieler Marcelinho im Spiel eins, einem 0:3 gegen Werder Bremen, den Mittelfuß. Davon erholte sich das Team nicht und schaffte erst am vorletzten Spieltag den Klassenerhalt. Ein Auftaktsieg ohne jeglichen positiven Effekt bildete dagegen etwa das 1:0 gegen Hannover 96 2009/10. Danach setzte es acht Niederlagen in Serie. Am Ende stand der bittere Abstieg.
Cheftrainer Stefan Leitl hat als Profi und später als Coach alle Facetten – Auftaktsiege und Pleiten samt deren Folgen – erlebt. Er wird die richtigen Antworten finden. Mit Paula Isringhausen hat Leitl zudem seit Sommer eine Sportpsychologin im Staff. Mein Vorschlag: Sie sollte den Profis jetzt viele Szenen der deutschen Frauen-Nationalmannschaft vorspielen. Dieses Team hat eindrucksvoll gezeigt, wie man mit Rückschlägen umgeht und was mit Kampfkraft, Willen und Teamgeist zu erreichen ist. Herthas Männer sollten genau hinschauen.
Berliner-zeitung