Mit Kühlweste und Wasserkocher: wie Fabian Staudenmann zum neuen Gesicht des Schwingsports wird

Alles findet zueinander. Auch in der Geschichte von Fabian Staudenmann, dem zurzeit besten Schwinger des Landes, Jahresbester 2023, Jahresbester 2024, Sieger des Eidgenössischen Jubiläumsschwingfests 2024, meistgenannter Anwärter auf den Königstitel 2025. Das Gesicht des Schwingsports. Dank Staudenmann dominieren die Berner die Szene, die so sehr vom Wettbewerb unter Teil- und Kantonalverbänden geprägt ist.
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Alles wäre anders, wenn 1968 nicht zwei junge Menschen aus dem Bündnerland ins Bernbiet gefahren wären. Fides und Georges Renggli führten zwei Gastlokale auf dem Berninapass, als sie den Drang nach Aufbruch spürten. Sie suchten Inserate und fanden den «Sternen» in Guggisberg.
Guggisberg, nahe Bern, nahe Thun, nahe Freiburg. Jede Stadt eine gute halbe Stunde entfernt, in Reichweite und doch weit weg.
Fides und Georges Renggli reisten mit einem grauen VW Käfer vom Bernina nach Guggisberg, und als sie vor dem «Sternen» haltmachten, fragte Georges nach dem Preis und unterschrieb den Vertrag.
Heute ist Fides Renggli über 90 Jahre alt. Es kommt noch immer vor, dass sie aufs Guggershörnli marschiert, das Wahrzeichen von Guggisberg, einen erhabenen Aussichtspunkt, der vor Augen führt, was in Reichweite ist und doch weit weg. Und Fides Renggli ist die Urgrossmutter von Fabian Staudenmann, die ihm für Erfolge bis heute einen Fünfliber bezahlt.
Es ist Anfang Juli, Staudenmann sitzt in der «Sternen»-Gaststube, vor ihm ein voller Teller, neben ihm die Grosseltern, die heutigen «Sternen»-Wirte, über ihm allerlei Glocken, die er als Schwinger gewonnen hat. Heimatbesuch, Pause.
Er ist in Guggisberg aufgewachsen, heute wohnt er in Bern. Vor der Saison sagte er: «Ich werde nichts tun, was den Erfolg gefährden könnte.» Mittlerweile hat er auch 2025 schon drei Feste gewonnen, zuletzt Ende Juni das Berner Oberländische in Adelboden. Einen Einsatz am 6. Juli liess er aus, Erholung, nichts tun. Am kommenden Wochenende tritt er am Berner Kantonalen an, am Fest dieses Verbands, der nur sein Verband ist, weil die Urgrosseltern einst das Bündnerland verliessen.
Guggisberg hat das Guggershörnli und das legendäre «Guggisberglied» über die traurige Liebesgeschichte von Vreneli und Hansjoggeli. Aber Guggisberg hat keinen Schwingklub. Guggisberg ist eine weitverzweigte Gemeinde mit vielen kleinen Weilern und knapp 1500 Einwohnern (Stand 2024). Mehr als 100 Menschen heissen Zbinden, Staudenmann ist der Nachname, der am siebtmeisten vorkommt in Guggisberg.
Fabian Staudenmann, geboren im Jahr 2000, ging als Bub in die JO eines örtlichen Skiklubs und wusste, was Schwingen ist. Mehr Begeisterung war da nicht. Bis er 2010 den Schlussgang des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfests mit dem Sieg des Berners Kilian Wenger sah. Kurz darauf fand im grösseren Nachbarort Schwarzenburg ein Schwing-Schnuppertag statt, Staudenmann schnupperte mit – und trat dem Schwingklub Schwarzenburg bei.
Staudenmann sagt, er habe Wenger nie explizit als Vorbild erachtet, «aber für mich stellte er das Gesicht des Schwingsports dar». Staudenmann überlegt sich, wie er etwas sagt. Er macht sich Gedanken, warum seine Karriere bisher so verlaufen ist. Er erzählt vom Tipp der Gotte, die ihn nach einem ernüchternden Jungschwingertag dazu motivierte, mit ihrem Partner zu trainieren, einem national bekannten Triathleten, Stefan Riesen.
«Und da geschah etwas, das für einen Jugendlichen das Beste ist», sagt Staudenmann. «Ich machte ein Training mehr – und die Leistungen wurden besser. Und ich machte ein zweites Training mehr – und die Leistungen wurden noch besser. Ich sah den Zusammenhang von Aufwand und Ertrag, mehr Input, mehr Output. Für einen 13-, 14-Jährigen ist eine solche Erkenntnis zentral. Wenn dir jemand sagt, dass du mehr machen musst, glaubst du es nicht – aber wenn du es selber merkst . . .»
Der Jungschwinger Staudenmann definierte sein Karriereziel: einen eidgenössischen Kranz. Wenn jemand fragte, warum er nicht mehr anstrebe, Schwingerkönig zu werden zum Beispiel – dann sagte Staudenmann, dazu brauche es auch Glück.
Im Frühling 2019 schaffte es Staudenmann erstmals in einen Schlussgang, im Emmental, gegen Curdin Orlik. Ausgerechnet Orlik, ein Bündner, der wie einst Staudenmanns Grosseltern aus dem Bündnerland nach Bern zog und blieb. Sieg für Orlik, Enttäuschung bei Staudenmann. Orlik aber sagte ihm: «Ende August fragt niemand mehr, wer das Emmentalische gewonnen hat.»
Ende August 2019 gewann Staudenmann erstmals einen eidgenössischen Kranz, als erst zweiter Guggisberger nach Walter Hürst. Hürst war ein Landwirt, der den Betrieb mit einem Bruder führte und in einem eigenen Schwingkellerchen auf dem Hof trainierte. Er gewann vier eidgenössische Kränze, 1948, 1950, 1956 und 1958, als Staudenmanns Urgrosseltern noch gar nicht wussten, wo Guggisberg liegt.
Daran dachte Ende August 2019 niemand; und niemand fragte, wer das Emmentalische gewonnen hatte – bloss Staudenmann fragte sich: «Und jetzt?» Er hatte sein Ziel erreicht, mit 19 Jahren, und spürte eine Orientierungslosigkeit. Er ist noch heute überzeugt davon, dass er 2020 «ein grottenschlechtes Schwingerjahr» gehabt hätte, wenn nicht die Corona-Pandemie den Wettkampfsport und sowieso das halbe Leben lahmgelegt hätte. Via Spitzensport-RS lernte er Matthias Glarner kennen, den Schwingerkönig 2016; und er erfuhr, was es heisst, hart zu trainieren.
Seither arbeitet er fix unter Glarners Anweisungen. Glarner liess Staudenmann früh wissen, dass er «schon noch zwei, drei Ziele wüsste» für ihn. Es war womöglich eine versteckte Verheissung – und bestimmt ein leises Versprechen, wie sehr Glarner an ihn glaubte.
Glarner sieht Staudenmann als «Dampflokomotive», weil er dieser Typ Sportler sei, der «extrem seinen Weg» gehe, sobald er wisse, wohin er wolle. Glarner publizierte ein Buch mit dem Titel «Dream Big» – Staudenmann sagt: «Ich ergänze diesen Titel gern. Ja, du darfst gross träumen, aber du musst bereit sein, auch den Preis dafür zu bezahlen.» Input, Output.
In der Saison 2023 gewann er sieben Kranzfeste und verlor einen einzigen Kampf: gegen Samuel Giger im ersten Gang des Unspunnen-Fests, des letzten und grössten Anlasses des Jahres. Glarner und Staudenmann fanden, es sei der wichtigste Gang der Saison gewesen, weil er gezeigt habe, was fehle.
Die Erinnerungen an die Niederlage füllten Staudenmann mit Motivation. Aber da war auch eine Leere: Staudenmann spürte nach einem derart erfolgreichen Jahr nicht derlei Emotionen, wie er sie erwartet hatte. In all den Jahren der Arbeit und Vorbereitung war er von mehr ausgegangen, von mehr Glück, von mehr Freude. Stattdessen dominierten die Gedanken an die einzige Niederlage und die Frage, wieso er nicht anders fühlte.
Seither gehört ein Psychologe zum Team Staudenmann. Und mittlerweile auch ein Medienkoordinator, der Anfragen bündelt, damit Staudenmann nicht alle zwei Wochen Termine hier und dort hat. Die Dampflokomotive weiss, was und wohin sie will. Staudenmann studiert Mathematik an der Universität Bern, aber in dieser Saison tut er nichts, was den Erfolg gefährden könnte.
So treibt Staudenmann sich voran und die anderen und vielleicht eine ganze SportartExperten fanden auch schon, für einen Schwinger sei Staudenmann auffallend wissenschaftlich unterwegs. Wenn es heuer an Schwingfesten besonders heiss war, zog Staudenmann Kühlwesten an. Er sagt: «Es gibt Studien, die besagen, bis fünfzehn Minuten vor dem Einsatz den Torso zu kühlen, bringe in den ersten zwei Minuten der Belastung eine Leistungssteigerung von ein paar Prozent.»
Staudenmann versuchte, die Ernährung am Wettkampftag anzupassen, «was isst du, wie, wann?», was eine besondere Herausforderung bedeute, wenn alle anderthalb Stunden ein Kampf stattfinde. Als er mit einem Wasserkocher über den Schwingplatz ging, fragten ihn die anderen, ob er Kaffee serviere. Nein, es ging um den Konsum von Reis und Poulet, was sich leichter verdauen lasse, wenn es mit heissem Wasser aufbereitet werde.
Der Schwingklubkollege Severin Schwander sei «ebenfalls auf den Zug aufgesprungen», sagt die Dampflokomotive Staudenmann. Schwander machte die Kochlehre bei Staudenmanns Grossvater im «Sternen» und ist diplomierter Metzgermeister, Produkte aus der Metzgerei Schwander sind mehrfach mit Goldmedaillen ausgezeichnet worden. Schwander bringt das Poulet an die Schwingfeste mit, fettarm und vakuumiert in Portionen abgepackt.
Staudenmann sagt, der Schwingsport sei noch so sehr in der Entwicklung begriffen, dass er viele Chancen biete mitzugestalten – «als Schwinger bist du in einer Holschuld, es wird nicht alles an dich herangetragen». So treibt Staudenmann sich und die anderen vorwärts und vielleicht auch die Sportart. Denn er ist das Gesicht des Schwingsports, oder? «Nein», sagt Staudenmann. Kürzlich habe er zu einem Kollegen gesagt, es sei «irgendwie unverständlich», dass die jüngeren Berner Schwinger zu ihnen hochschauten, «wir sind doch immer noch Kindsköpfe».
Er selber habe unentwegt die grösste Achtung vor Florian Gnägi, Thomas Sempach oder Bernhard Kämpf, die Fest für Fest hinter Staudenmann beenden, aber schon gut schwangen, als er noch nicht einmal einem Schwingklub angehörte – «dieses Gefühl des Respekts geht wohl nie richtig weg».
Es sind Fragen der Rollen, der Selbstreflexion, der Kindskopf denkt weiter und sagt: «Am verrücktesten ist es für mich mit dem Konflikt zwischen Auto- und Velofahrern. Wenn ich im Auto sitze, nerve ich mich über die Velofahrer – und wenn ich zwanzig Minuten später auf dem Velo sitze, nerve ich mich über die Autofahrer. Und beide Male denke ich, dass ich zu hundert Prozent im Recht bin.»
Es gibt Leute, die meinen, Staudenmann dürfe ein bisschen lieber sein zu sich, und vermutlich sind sie zu hundert Prozent im Recht. Aber vielleicht ist 2025 einfach nicht der Moment dafür. 2023, als der Winter ausklang und die Schwingsaison startete, nahm er noch am Rennen des Skiklubs teil. Im ersten Lauf «überschlug es ihn», so sagt er es, er blieb aber unverletzt.
Heuer tut er nichts, was den (Schwing-)Erfolg gefährden könnte, und verzichtete auf das Skiklubrennen, sein jüngerer Bruder gewann. Der Bruder arbeitet im Geschäft, das Fabian als Autosponsor unterstützt – und seit dem Rücktritt auch Kilian Wenger beschäftigt, das frühere Gesicht des Schwingsports. Alles findet zueinander.
Staudenmann sagt: «Mit einem Ziel vor Augen lege ich eine grosse Leidensbereitschaft an den Tag.» Das Ziel ist der Königstitel Ende August in Mollis, so nah und doch so fern, oder? «Nein», sagt Staudenmann. «Wenn ich sagen würde, ich wolle König werden, wäre es höchstens eine Behauptung, kein Ziel.»
Staudenmann sieht es nicht anders als einst als Jungschwinger, als er sagte, er strebe nicht nach dem Königstitel, weil es dafür auch Glück brauche. Aber er weiss auch, dass Ende August niemand mehr fragen wird, wie viel er getan habe, um vom Glück möglichst wenig zu brauchen.
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