Seit vierzig Jahren gewann kein Einheimischer die Tour de France: An Bernard Hinaults Erbe sind unzählige französische Radfahrer zerbrochen


Gilbert Uzan / Gamma-Rapho / Getty
Auf der siebenten Etappe fuhr das Fahrerfeld der Tour de France durch Yffiniac. Ein Dorf in der Bretagne mit knapp 5000 Einwohnern, eigentlich nur eine weitere Gemeinde auf dem endlos langen Parcours der wichtigsten Velorundfahrt des Jahres. Und doch dürften beim einen oder anderen französischen Radprofi unangenehme Gedanken aufgekommen sein bei der Passage dieses Dorfes.
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Yffiniac ist der Heimatort von Bernard Hinault, dem französischen Radhelden der 1980er Jahre. Hinault hat alle Grands Tours gewonnen, zweimal die Vuelta, dreimal den Giro und fünfmal sogar die Tour de France. Er ist mit seinem Landsmann Jacques Anquetil, dem Belgier Eddy Merckx und dem Spanier Miguel Indurain der Rekordsieger.
Die TV-Kameras fingen während der Etappe immer wieder einen rüstigen 77-Jährigen im Fahrzeug der Rennleitung ein. Er winkte den Zuschauern zu und lächelte: Hinault persönlich. Wichtiger als die Durchfahrt durch Yffiniac ist jedoch eine andere Tatsache: Hinault bleibt der letzte französische Sieger der Tour de France. Das liegt vierzig Jahre zurück.
Keiner hat schöner gelitten als Thibaut Pinot2024 schaffte es kein Franzose in die top zehn der Tour. Dass das Warten weitergehen dürfte, sagte auch Hinault vor der diesjährigen Tour in einem Interview mit der Sportzeitung «L’Équipe». Er hätte keinen Centime gewettet, dass es mehr als vierzig Jahre dauern würde, bis ein Landsmann ihm nachfolgt. Doch: «Es ist hart, aber wir haben keinen Champion.» Er verglich Frankreichs Radprofis mit Motorrädern: «Um die Tour zu gewinnen, brauchte es eine Maschine mit 1000 Kubikzentimetern. Wir haben nur 750er.»
In die Kategorie der 750er gehören gemäss Hinaults Einschätzung Kévin Vauquelin und Lenny Martinez. Die beiden stehen an dieser Tour aus französischer Sicht im Fokus. Vauquelin, 24 Jahre alt, gewann 2024 eine Tour-Etappe, wurde dieses Jahr an der Flèche wallonne Zweiter hinter Tadej Pogacar und beendete die Tour de Suisse ebenfalls auf dem zweiten Rang. Martinez, 22-jährig, triumphierte jüngst auf der Königsetappe der Tour de Romandie und in einem Teilstück am Critérium du Dauphiné.
Die beiden haben auch an der Tour auf sich aufmerksam gemacht, Martinez sicherte sich in der zweiten Woche das gepunktete Trikot des Bergpreis-Leaders, war an einer harten Pyrenäen-Etappe lange als Solist unterwegs. Vauquelin fuhr während neun Etappen in den top drei des Gesamtklassements und ist mittlerweile Fünfter. Doch vom Gesamtsieg reden sie nicht, träumen vielleicht davon, schätzen sich aber realistisch ein.
Am Ruhetag in Narbonne sagte Vauquelin am Montag, die lange Erfolglosigkeit der französischen Radfahrer sei auch ihm bewusst. «Hoffen und träumen ist erlaubt. Wir sind jung, es kann noch viel passieren.» Für die diesjährige Tour seien Etappensiege das Ziel gewesen. «Aber ich werde natürlich versuchen, meinen fünften Platz bis Paris zu behalten.»
Vauquelin und Martinez gehören zu einer Generation französischer Profis, die sich vom Druck eines Gesamtsiegs befreit haben. Hinault, bekannt für seine scharfe Kritik, wirft den Nachfolgern seit Jahren vor, sie trainierten zu wenig, und sagt, sie hätten den Hunger auf Erfolge verloren. Doch die neuen jungen Fahrer kümmert das wenig.
Sie trainieren, schweigen und suchen den Erfolg nicht im schwer erreichbaren Gesamtsieg, sondern in Fluchten und Etappensiegen – im Kampf und im Spektakel. Vauquelin sagte: «Für mich ist es ein Traum, an der Tour de France dabei zu sein.» Oder: «Ich hatte keine Luft und keine Beine mehr, aber ein volles Herz.» Das Publikum liebt ihn für solche Worte.
Christophe Petit Tesson / EPA
An der Messlatte, die Hinault gelegt hatte, massen sich zuvor Generationen französischer Radprofis. Sie scheiterten allesamt. Richard Virenque gewann zwar siebenmal die Bergwertung der Tour – Rekord –, wurde aber 1998 im Rahmen der Festina-Affäre von der Tour ausgeschlossen. Thomas Voeckler kämpfte 2011 heroisch, rettete das Maillot jaune über die Pyrenäen, nährte damit die Hoffnung der Franzosen. Er scheiterte an der Alpe d’Huez und am Luxemburger Andy Schleck.
Romain Bardet hatte 2016 das Pech, dass seine besten Jahre mit jenen von Christopher Froome und dessen übermächtiger Mannschaft Sky zusammenfielen. Bardet wurde Zweiter. Und in jüngster Vergangenheit litt niemand schöner als Thibaut Pinot, der Liebling der Massen. 2019 brannte Frankreich auf einen Tour-Sieg.
Doch Pinot musste die Rundfahrt wegen einer Knieverletzung aufgeben, stieg unter Tränen in den Mannschaftswagen. Im gleichen Jahr verteidigte Julian Alaphilippe, heute in Diensten des Schweizer Tudor-Teams, bis zur viertletzten Etappe das Maillot jaune, verlor es in den Bergen aber an Egan Bernal. Seitdem? Nichts. Sogar der letzte Sieg an einem Etappenrennen der höchsten Stufe liegt mittlerweile 18 Jahre zurück. Hoffnung auf Besserung? Kaum.
Jalabert und Virenque fahren gedopt auf Rang zweiFür die lange Baisse der Franzosen gibt es Erklärungen. Einerseits wurde der Radsport nach Hinaults Sieg globalisierter, die Konkurrenz für klassische Radsportländer wie Frankreich, Belgien, die Niederlande und Italien grösser. Greg LeMond war 1986 der erste Nichteuropäer, der an der Grande Boucle triumphierte. In den dopingverseuchten 1990er und 2000er Jahren gab es kein Vorbeikommen an Lance Armstrong, dem die sieben Tour-Siege später aberkannt wurden.
Graham Watson / Hulton / Getty
In dieser Ära wurden Laurent Jalabert und Virenque je zweimal Gesamtzweite, ebenfalls als Dopingsünder. Ihre Tour-Siege wurden wegen des grossflächigen Einsatzes leistungssteigernder Mittel keinem anderen zugeschlagen. Es folgte die Ära der Briten mit Froome, Bradley Wiggins und Geraint Thomas, dann die der Südamerikaner, angeführt von Bernal.
Hinzu kommt, dass Frankreichs Radsport der Unterbau bei den Amateuren abhandengekommen ist. Zu Hinaults Zeiten gab es vor allem in der Normandie und der Bretagne aus praktisch jedem Dorf einen starken Velofahrer, jede Gemeinde veranstaltete ein Critérium. Viele dieser Hauseckenrennen sind verschwunden.
Sogar Hinault scheint seine Erwartungen mittlerweile angepasst zu haben. Auf die Frage, welchem Franzosen er an dieser Tour einen Etappensieg zutraue, antwortete der Grandseigneur: «Allen, allen, allen. Sonst hat es keinen Sinn, an den Start zu gehen . . .»
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