ERKLÄRT - Vielen Menschen werden die Weisheitszähne entfernt. Aber ist das wirklich nötig?

Die Tochter unserer Leserin hat Angst vor der Operation zur Entfernung der Weisheitszähne. Ein Oralchirurg erklärt, weshalb viele Zahnmediziner ihren Patienten dazu raten und worauf man achten sollte, wenn man sich dagegen entscheidet.
Illustration Simon Tanner / NZZ
Leserfrage: Den meisten Teenagern wird empfohlen, sich mit etwa 17 Jahren die Weisheitszähne operativ entfernen zu lassen, damit die restlichen Zähne genügend Platz haben. Unsere jüngere Tochter hat allerdings grosse Angst vor Operationen aller Art. Woher wissen wir, ob das wirklich nötig ist?
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Andreas Filippi entfernt regelmässig Menschen im jungen Erwachsenenalter ihre Weisheitszähne. Der Professor für Oralchirurgie am Universitären Zentrum für Zahnmedizin Basel tut das nicht aus ästhetischen Gründen. Er sagt: «Wenn sich die Zähne verschieben, liegt es daran, dass sie generell den Trend haben, nach vorne zu wandern.» Deshalb erhielten heute die meisten Jugendlichen nach dem Abschluss einer kieferorthopädischen Behandlung einen Draht, der auf die Innenseite der vorderen Zähne geklebt werde. So soll verhindert werden, dass sich die Zähne verschieben. Laut der Leitlinie zur operativen Entfernung der Weisheitszähne wird die Frage der Verschiebungen aufgrund von Weisheitszähnen allerdings «kontrovers diskutiert» und ist «nicht abschliessend geklärt».
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Filippi jedenfalls liesse die Weisheitszähne wachsen, sofern sie genügend Platz haben, um durchzubrechen. Aber das ist eher selten der Fall. Denn der Kiefer ist im Laufe der Menschheitsgeschichte immer kleiner geworden. Bei bis zu 80 Prozent der jungen Erwachsenen bleibt deshalb mindestens ein Weisheitszahn im Kiefer und bricht nie durch.
Wenn Weisheitszähne im Kieferknochen bleiben«Früher oder später können und werden Bakterien ihren Weg dorthin finden. Dann entzündet sich der Zahn», sagt der Oralchirurg. Auch Zysten können sich rund um einen im Kieferknochen verbliebenen Weisheitszahn bilden. Das sind langsam, aber stetig wachsende Hohlräume, die den Knochen schwächen. Teilweise liegen Weisheitszähne schräg und zielen mit ihrer Krone auf die Wurzel des Nachbarzahns. Da kann es passieren, dass die Nachbarwurzel mit der Zeit Schaden nimmt.
Manche Weisheitszähne brechen immerhin teilweise durch – so weit sie eben Platz finden. In solchen Fällen bleibt langfristig Schleimhaut auf der nicht ganz hervorgetretenen Zahnkrone zurück. Diese Zähne lassen sich kaum reinigen und sind deshalb anfällig für Karies. Laut der Leitlinie zur Entfernung von Weisheitszähnen bereiten bis zu 60 Prozent der Weisheitszähne früher oder später Probleme.
«Das Hauptproblem ist letztlich unsere enorm lange Lebenserwartung», sagt Andreas Filippi. «Der Weisheitszahn müsste sicher 60 Jahre lang unauffällig im Kiefer liegen.» Zum Teil werden 60-, 70- oder 80-jährigen Patienten, die an Krebs erkrankt sind, Weisheitszähne vor einer Strahlen- oder Chemotherapie entfernt. Andreas Filippi: «Das ist mehr als unerfreulich, weil es ihnen ohnehin sehr schlecht geht. Eine Operation unter solchen Rahmenbedingungen ist dann auch nicht unbedingt risikoarm.»
Auch Diabetes und andere chronische Erkrankungen, die im Laufe des Lebens auftreten können, verkomplizieren die Entfernung der Weisheitszähne, erhöhen das Infektionsrisiko bei einer Operation und verlängern die Wundheilung. Deshalb sagt der Oralchirurg: «Wenn klar ist, dass die Weisheitszähne aufgrund von Platzmangel im Kiefer bleiben, bringen sie dem Menschen nichts, bereiten jedoch im Laufe des Lebens oft Probleme. Deshalb empfehle ich in diesen Situationen, sie früher oder später zu entfernen.»
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Das muss nicht schon mit 17 Jahren geschehen. Die Leitlinie empfiehlt eine operative Entfernung vor dem 25. Lebensjahr. Danach steige das Risiko für Komplikationen. Der Vorteil in solch jungen Jahren ist zudem, dass die Wurzeln der Weisheitszähne noch nicht vollständig entwickelt sind. Filippi erklärt: «Im Unterkiefer verläuft ein dicker Nerv durch den Kieferknochen. Mit der Zeit wachsen die Wurzeln hin und wieder um den Nerv herum. Dann ist die Operation nicht mehr so einfach.»
Seine Empfehlung: operieren, bevor die Wurzeln ausgewachsen sind, aber abwarten, bis sich der Zahn schon ein wenig in Richtung Mundhöhle bewegt hat – damit man nicht allzu viel Knochen entfernen muss.
Manche Patienten haben allerdings Angst oder wollen aus anderen Gründen erst einmal auf eine Operation verzichten. «Ich empfehle in solchen Fällen, etwa alle fünf Jahre per Röntgenbild nachzuschauen, ob der Zahn noch unauffällig ist», sagt Filippi. «Wichtig ist, Patientinnen und Patienten im Vorfeld entsprechend gut zu informieren.»
Es sei aber möglich, auch ängstliche Patienten zu operieren. «Wir planen in solchen Fällen genügend Zeit ein, damit wir jederzeit eine Pause für den Patienten machen können. Manche müssen vor allem spüren, dass sie gut aufgehoben sind. Andere brauchen zudem eine Hand, die ihre hält», sagt der Zahnmediziner. Seien diese Bedingungen erfüllt, sagten viele nach der Behandlung: «Das war viel weniger schlimm, als ich dachte.»
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