KOMMENTAR - Die Amerikaner geizen in der Forschung – jetzt muss Europa übernehmen

Wissenschaftliche Studien, Register, Datenbanken – die USA haben der Welt viel spendiert. Nun sieht das Land nicht mehr ein, weshalb es die Kosten für eine Forschung, die allen dient, allein übernehmen soll. Damit ist Europa aufgerufen, in die Bresche zu springen und durch kluge Investitionen in die Wissenschaft selbst zum Zugpferd zu werden.
Doug Whitney bietet der Wissenschaft eine einmalige Chance. Er gehört zu den 500 Personen, die Forscher auf dem Globus aufgestöbert haben, weil sie in einer Hinsicht besonders sind: Sie besitzen eine Mutation in ihrem Genom, die sie verurteilt, schon um ihren fünfzigsten Geburtstag herum an Alzheimer zu erkranken. Whitney ist jedoch bereits 74 und zeigt noch keine Symptome. Was schützt ihn und einige wenige andere Studienteilnehmer vor der Krankheit? Das wollen Forscher in der sogenannten Dian-Studie herausfinden.
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Bei anderen Teilnehmern testen sie, ob man das Ausbrechen der Krankheit, wenn man sehr früh mit der Therapie beginnt, irgendwie verhindern kann. Zumindest galt das bis jetzt, denn hinter der Weiterführung der Studie steht gerade ein grosses Fragezeichen. Bislang haben vor allem die USA die Kosten für Dian übernommen. Das betraf selbst Probanden in Europa und in kolumbianischen Bergdörfern. Plötzlich möchte das Land dem Rest der Welt aber nicht mehr die Forschung spendieren.
Seitdem Donald Trump und die Republikaner vor fast zehn Monaten in den Vereinigten Staaten die Regierung übernommen haben, zeigt sich auch in der Wissenschaft: Auf den grossen Bruder ist kein Verlass mehr. Internationalen Studien dreht das Land den Geldhahn zu, wissenschaftliche Datenbanken und Biobanken fürchten, dass sie mit den USA bald den Hauptsponsor verlieren.
Europa hat es sich im Windschatten der USA bequem gemachtPlötzlich fällt auf, was die Amerikaner in der Forschung alles bezahlen. Und wie bequem es sich die europäische Wissenschaft in ihrem Windschatten eingerichtet hat. Damit müssen die Europäer auch in der Medizinforschung lernen, sich auf die eigenen Beine zu stellen, mehr Verantwortung zu übernehmen – und ihr Verhältnis zu den USA neu definieren.
34,6 Milliarden Dollar haben die amerikanischen National Institutes of Health, kurz NIH, in denen die staatlichen medizinischen Forschungsinstitute gebündelt sind, im Jahr 2023 für Gesundheitsforschung ausgegeben. Vonseiten der Europäischen Kommission waren es 1,1 Milliarden. Solche Zahlen erklären das bisherige amerikanische Modell der Wissenschaftspolitik: Die hohen Summen locken die internationale Forscherelite ins Land. Wer in den Lebenswissenschaften etwas werden will, wird in der Regel auch eine Karrierestation in den USA machen. Viele der Besten bleiben für immer und bringen im Gastland Wissenschaft und Wirtschaft voran.
Diese finanziellen Unterschiede spiegeln aber auch etwas anderes: Es sind die USA, die meist das Geld in die Hand nehmen, um die grossen medizinischen Fragen in grossen Studien zu klären. Besonders in der sogenannten translationalen Forschung geht ohne die Amerikaner wenig. Darunter versteht man den Versuch, wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Labor in die medizinische Praxis und damit zu den Patienten zu bringen. Gerade hier braucht es oft teure Studien, die der Privatwirtschaft keinen Gewinn versprechen und deshalb öffentlich finanziert werden müssen.
Die grossen Studien werden von den USA spendiertSo begannen etwa die USA vor 77 Jahren, regelmässig die Einwohner einer ganzen Stadt, Framingham, zu untersuchen. Ziel war es, die Ursachen und Risikofaktoren von Herzkrankheiten aufzuspüren. Das hat auch in Europa viele Menschenleben gerettet.
Jenseits des Atlantiks pusht man mit Hunderten von Millionen den Versuch, einen HIV-Impfstoff zu finden oder mit RNA-Impfstoffen zukünftige Pandemieerreger oder Krebs zu bekämpfen. Und das nicht nur auf dem eigenen Kontinent. Amerika bezahlt auch in Übersee Forscher dafür, dass sie helfen, solche Menschheitsgeisseln zu besiegen. Das Land investiert rund 1,6 Milliarden Dollar, um mit der Recover-Studie das Mysterium Long Covid aufzuklären; gerade einmal rund 160 Millionen Dollar ist die EU bereit in dieses Ziel zu investieren.
Manche Europäer dürfen bei diesen Unternehmungen als Juniorpartner mitmachen, indem sie Ergebnisse von Teiluntersuchungen beisteuern. Die dabei produzierten Daten werden meist ebenfalls jenseits des Atlantiks in Rechenzentren gesammelt. Der Rest der Welt durfte sich bislang dieser Schätze bedienen. Wer wissen will, welche genetische Mutation welche körperlichen Veränderungen bewirkt, findet sie zum Beispiel im Clinvar-Archiv beim National Center for Biotechnology Information in Maryland.
Diese Arbeitsteilung wird in Zukunft nicht mehr funktionieren: Der HIV-Impfstoff-Forschung wurde gerade in Amerika die Förderung entzogen, auch die RNA-Impfstoff-Forscher wissen seit kurzem: Sie müssen mit deutlich weniger Geld auskommen. In der Medizin macht sich deshalb die Sorge breit: Was ist, wenn die USA auch noch den Datenbanken oder gar Pubmed den Strom abstellen? Pubmed ist eine Art Online-Bibliothek, die Auskunft darüber gibt, wer was in der Medizin zu welchem Thema geforscht oder geschrieben hat. Ein extrem beliebter Service, den bis jetzt ebenfalls die Vereinigten Staaten bereitstellen.
Ein Anlass, sich selbst zu hinterfragen, nicht fürs SchmollenEs ist sicher die falsche Reaktion, beleidigt zu tun, wenn die USA jetzt die Spendierhosen ausziehen wollen. Es gibt durchaus Gründe, die neue Forschungspolitik des Landes zu kritisieren. Dass Amerika anderen Staaten nicht mehr alles bezahlen will, kann man dem Land aber schlecht vorhalten. Das ist eher ein Grund dafür, sich selbst kritische Fragen zu stellen.
Warum hat sich Europa beispielsweise bisher bei der Finanzierung wichtiger wissenschaftlicher Gemeinschaftsaufgaben so zurückgehalten? Spätestens jetzt sollte der Zeitpunkt gekommen sein, auf die Amerikaner zuzugehen und ihnen eine Beteiligung an den Kosten für Pubmed und andere Datenbanken anzubieten. Das wäre nur fair und würde die Wogen glätten.
Genauso wichtig wäre es, gar keinen Anlass mehr für den Vorwurf zu bieten, man lasse sich von Amerika aushalten. Die Europäer sollten deshalb zukünftig bei grossen, wichtigen Medizinstudien als Co-Finanzierer einsteigen. Gemeinsam könnten die Länder des Kontinents diese Aufgabe stemmen. Dann hätte man auch ein Wörtchen mitzureden, wenn der Partner plötzlich alles hinschmeissen möchte.
Ein Dream-Team für die KrebsforschungMit gebündelten Kräften könnten die beiden Kontinente der Wissenschaft noch einen grösseren Schub geben, das zeigen zum Beispiel die Cancer Grant Challenges. Fachleute aus aller Welt können sich dort für Projekte bewerben, die die grossen Herausforderungen in der Krebsmedizin angehen sollen. Es locken üppige 25 Millionen Dollar Forschungsförderung. Aus den Besten wird eine Art Dream-Team zusammengestellt, in dem sich die unterschiedlichen Expertisen ergänzen sollen.
Eine Gruppe aus Boston ist beispielsweise spezialisiert darauf, Angriffspunkte für neue Medikamente gegen kindliche Tumoren zu identifizieren. Eine andere aus Heidelberg auf die Entwicklung von Stoffen, die an diesen Angriffspunkten wirken. Die Hälfte der Kosten für die Challenges übernehmen bis jetzt die NIH, die andere eine britische Stiftung. Jetzt wollen die Amerikaner nicht mehr zahlen. Damit wird jemand gesucht, der sie ersetzen könnte.
Um mit den USA aber als halbwegs gleichwertiger Partner zusammenzuarbeiten, muss sich die Europäische Union neu aufstellen. Das weiss man auch in der EU-Kommission. Schon Ende 2023 hatte sie eine Expertengruppe damit beauftragt, zu überlegen, wie man in der Forschung zu den Amerikanern aufschliessen könnte. Ende 2024 haben die 15 Fachleute ihren sogenannten Heitor-Bericht vorgelegt. Ratschlag Nummer eins: mehr Grosszügigkeit bei den Fördermitteln. 2,2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung gibt die Gemeinschaft für den wissenschaftlichen Fortschritt aus. 3,3 sind es in den Vereinigten Staaten. Ratschlag Nummer zwei: Konzentration auf einzelne Kernprojekte. Momentan verzettele sich die Organisation zu sehr bei dem Versuch, es allen – in erster Linie allen Mitgliedsstaaten – recht zu machen.
Die Experten wünschen sich mehr Wettbewerb statt ungezielter Mittelverteilung per Giesskanne. Sie fordern mehr Investitionen in die Forschungs-Infrastruktur, also Dinge wie Labore und Grossgeräte. Und sie drängen darauf, dass Europa risikofreudiger wird. Wer wie die Amerikaner unter dem Einsatz von mehreren Milliarden Dollar eine Cancer-Moonshot-Initiative ins Leben ruft, die die Zahl der Krebstoten binnen 25 Jahren halbieren soll, kann damit zwar auf die Nase fallen, er kann aber auch viel gewinnen. Hierzulande würde man sich nie so weit aus dem Fenster lehnen. Die Heitor-Kommission wünscht sich neue Institutionen, die bereit sind, grössere Risiken einzugehen. Alles Vorschläge, die in die richtige Richtung weisen und Europa für grössere Forschungsaufgaben rüsten würden.
Die Institute wollen nicht warten, sie helfen sich selbstViele europäische Forschungsinstitute wollen nicht darauf warten, dass den Experten auch Gehör geschenkt wird, sie haben ihr Schicksal selber in die Hand genommen. Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen stopft zum Beispiel bei der Dian-Studie finanzielle Lücken; an der Deutschen Zentralbibliothek für Medizin in Köln versucht man hektisch, ein Ersatz-Pubmed aufzubauen; an anderen Orten erstellt man von amerikanischen Datenbanken rasch Sicherungskopien.
Um gegen zukünftige Umbrüche widerstandsfähiger, im Fachjargon resilienter zu werden, knüpfen die Institute Netzwerke mit internationalen Forschungsstätten und intensivieren die Zusammenarbeit. Wer viele Partner und Financiers hat, so die Idee, kann es eher verkraften, wenn plötzlich einer ausfällt. Denn die Neuausrichtung der amerikanischen Forschungspolitik hat auch die Wissenschaft in Europa gelehrt: Darauf zu hoffen, dass andere es schon richten – das funktioniert nicht mehr.
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