Nach Bidens Krebsdiagnose rätselt die Nation: Wie konnte beim bestüberwachten Mann des Landes so etwas übersehen werden?


Wenn es um ihre eigene Gesundheit geht, war amerikanischen Präsidenten noch nie ganz zu trauen. Woodrow Wilson beispielsweise war in seinen letzten Präsidialjahren 1920 und 1921 nach mehreren Schlaganfällen kaum noch amtsfähig, seine Frau erledigte heimlich die Amtsgeschäfte. Dwight Eisenhowers Leibarzt vertuschte in den 1950er Jahren den Herzinfarkt des Präsidenten, er habe nur eine Verdauungsstörung. Ronald Reagan wiederum versuchte gegen Ende seiner Amtsperiode verzweifelt, erste Symptome einer Demenz zu verbergen.
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Deren Nachfolger Joe Biden wird Ähnliches unterstellt. Es gibt bereits Bücher, die sich der Frage widmen: Hätte seine eingeschränkte geistige Leistungsfähigkeit nicht vor dem Wahlkampf mit Donald Trump auffallen müssen?
Nun ist noch ein zweites Verdachtsmoment hinzugekommen. Wie kann es sein, fragt sich gerade die amerikanische Öffentlichkeit, dass bei einem der medizinisch am besten überwachten Menschen der Welt ein Prostatakarzinom erst in einem derart fortgeschrittenen Stadium auffällt? Bei Biden wurde ein Tumor gefunden, der bereits Tochtergeschwülste in die Knochen gestreut hat. Drei bis fünf Jahre Lebenserwartung, mehr können ihm die Experten nicht versprechen.
Wurde der PSA-Test vergessen?Die Frage: «Wie konnte das passieren?» stellt sich auch gerade deshalb, weil es einen entsprechenden Früherkennungstest gibt: die PSA-Untersuchung, bei der der Blutspiegel des sogenannten prostataspezifischen Antigens bestimmt wird. Von Fachleuten wird jedem Mann ab 45 zu dieser Untersuchung geraten. Ab dem Alter von 75 (genauer gesagt ab einer Lebenserwartung von weniger als zehn Jahren) wird den Männern aber auch wieder davon abgeraten. «Der Arzt des Präsidenten hat medizinisch gesehen also nichts falsch gemacht, wenn er diesen Wert bei Joe Biden nicht bestimmt hat», sagt Christian Gratzke, der Chef der Urologie der Freiburger Uniklinik.
Im Februar 2024 wurde der letzte Gesundheits-Check des Ex-Präsidenten ins Netz gestellt. Elf Ärzte aus unterschiedlichen Fachrichtungen haben Biden damals auf Herz und Nieren untersucht, die Prostata dabei aber anscheinend ausgelassen. Weder der Name eines Urologen noch ein PSA-Wert ist auf dem Untersuchungsbericht zu finden.
Dass die Fachleute den PSA-Test im hohen Alter nicht mehr empfehlen, hat paradoxerweise damit zu tun, dass die Wahrscheinlichkeit zu gross ist, dass sie etwas finden. Rund jeder zweite Senior hat in diesem Alter einen Tumor in der Prostata. Weil dieser aber in der Regel sehr langsam wächst, wird er den meisten nicht gefährlich werden. «Diese Karzinome wollen wir gar nicht entdecken, um den Betroffenen die Nebenwirkungen einer Behandlung zu ersparen», so Gratzke.
Fehldiagnosen sind nicht seltenAber auch bei Jüngeren liegt der Test oft daneben: Von 1000 beschwerdefreien Männern mit einem verdächtigen PSA-Wert (≥ 4 Nanogramm pro Milliliter) haben nur 330 tatsächlich Prostatakrebs. In 670 Fällen ist der positive Test ein Fehlalarm, weil die Untersuchten zum Beispiel nur ein vergrössertes oder entzündetes Organ haben. Der PSA-Test habe sicherlich seine Schwächen, räumt Beat Roth ein, der Chefarzt der Urologie am Berner Inselspital, «aber wir haben einfach nichts Besseres».
Die Ärzte versuchen sich deshalb, so weit wie möglich mit diesem Mangel zu arrangieren. Als besonders tumorverdächtig gilt zum Beispiel ein steiler Anstieg im Vergleich zu einem früheren Wert. Denn das bedeutet: Es muss sich etwas im Organ erheblich verändert haben. Deshalb wird der Patient bei einem leicht erhöhten PSA inzwischen alle vier Jahre zur Nachuntersuchung einbestellt. Bei einer mittleren Erhöhung sogar alle zwei Jahre. Bei einem stark erhöhten Wert war bislang sogar eine jährliche Nachkontrolle vorgesehen. Das wird sich demnächst mit einer neuen Leitlinie ändern. In Zukunft wird in solchen Fällen mit einer Kernspintomografie gründlicher nach einem Tumor gefahndet, und es werden von verdächtigen Stellen Proben genommen.
Dass insgesamt 10 bis 15 Prozent der Prostatakarzinome vom PSA-Test übersehen werden, hat aber noch andere Gründe. Einer davon sind «Raketen-Tumore», die innerhalb von Monaten wachsen und den Betroffenen gefährlich werden. Ein anderer sind Karzinome, die kein PSA produzieren. Der Grund: Im Verlauf ihrer Entartung haben sie diese Eigenschaft der anderen Prostatazellen verloren. Auch sie können mit dem Test nicht detektiert werden. Das eine oder das andere trifft jeweils ungefähr auf jeden 50. Tumor zu. Knapp 10 Prozent der Krebsgeschwüre werden erst entdeckt, wenn sie bereits Metastasen im Körper verteilt haben. Weil sie übersehen werden oder weil die Männer sich gegen einen PSA-Test entschieden haben.
Symptome machen sich erst im Spätstadium bemerkbarEs kann also durchaus sein, dass Bidens Tumor trotz PSA-Check nicht aufgefallen wäre. Im Fall des Ex-Präsidenten hat sich das Karzinom durch Spätsymptome wie Blut im Urin, Probleme mit dem Wasserlassen oder regionale Schmerzen verraten. «Aber ich bin mir trotzdem sicher, dass es Biden geholfen hätte, wenn man ihn früher untersucht hätte», sagt Roth. Denn vor diesen Symptomen sind lokal stark vergrösserte Karzinome für den Arzt mit dem Finger tastbar.
Zudem kann man sich die Frage stellen: Sollte bei einem Präsidenten, der mit über 80 seine Jobtauglichkeit belegen will, ein PSA-Test nicht zwingend zum Programm gehören? Mit einem Staatsoberhaupt, das im Amt eine Krebsdiagnose erhält, ist einem Land nicht unbedingt gedient.
Donald Trump, 78 Jahre, hat es anders gemacht; er ging schon bei seiner ersten Kandidatur in die Offensive. Damals brüstete er sich sogar damit, was für einen tollen PSA-Wert er habe. Auch bei seiner letzten offiziellen Untersuchung vor wenigen Wochen waren die Prostata-Befunde mehr als vorzeigbar. Dasselbe gilt für den Zustand von Herz und Gefässen. Letzteres kann man entweder auf die gesundheitsfördernde Wirkung der Sportart Golf zurückführen oder angesichts des Lebenswandels des bekennenden Fast-Food-Fans, Body-Mass-Index von 28, durchaus erstaunlich nennen.
nzz.ch