99 Prozent aller neuen Medikamente in den USA gibt es nur dank der NIH. Nun hat Donald Trump ihr den Kampf angesagt


Auf diesen Durchbruch hat Mathias Jucker ein halbes Forscherleben lang gewartet. Seit 15 Jahren sammelt er mit Kollegen aus aller Welt Daten über Familien, deren Mitglieder wegen einer Genmutation zu einem beängstigenden Schicksal verurteilt sind: Mit 50 oder 45, vielleicht auch schon mit 40 Jahren wird ihr Gedächtnis sie im Stich lassen. Dann wird der Morbus Alzheimer bei ihnen zuschlagen.
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Jetzt endlich gibt es Medikamente, die die Zerstörung ihrer geistigen Fähigkeiten womöglich aufhalten könnten. Doch nur, wenn sie schon sehr früh, vor den ersten Symptomen, eingenommen werden. Im Rahmen der Dian-Studie haben die Wissenschafter nun erstmals die Gelegenheit, genau das zu tun: Junge Familienangehörige werden schon zehn oder zwanzig Jahre vor dem Zeitraum behandelt, in dem die ersten Demenz-Symptome erwartet werden. Für die Wissenschaft ist das eine einmalige Chance. Denn bei anderen Alzheimerpatienten ist die Krankheit in diesem frühen Stadium kaum zu erkennen.
«Ich kenne viele unserer Teilnehmer persönlich, auch die Jugendlichen. Dank diesen Medikamenten könnten sie vom Schicksal ihrer Eltern verschont bleiben. Das ist doch Wahnsinn», sagt Jucker, der am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Tübingen arbeitet.
Doch nun ist unklar, ob und in welchem Ausmass die Dian-Studie weitergeführt werden kann. Bisher haben die amerikanischen National Institutes of Health (NIH) geschätzt bis zu 80 Prozent der Kosten für die Beobachtung der Familien übernommen, obwohl viele aus anderen Ländern stammen und ausserhalb der USA betreut werden. Jetzt zeichnet sich ab, dass die Behörde für biomedizinische Forschung ihre Förderung stark zurückfahren oder sogar einstellen wird. Denn zurzeit werden die NIH von der Trump-Regierung heftig angegriffen. Angestellte wurden entlassen, Gelder eingefroren, laufende Studien eingestellt.
Viele Wissenschafter sehen darin den Versuch, die NIH zu zerstören. Schon jetzt, sagen sie, werde durch die Massnahmen der medizinische Fortschritt ausgebremst. Die Trump-Regierung hingegen argumentiert, man gehe gegen Verschwendung, Betrug und gefährliche Ideologie vor.
Die NIH sind ein Gigant der GesundheitsforschungKlar ist, dass die NIH einen gigantischen Einfluss auf medizinische Forschung haben. Gerade in der Grundlagenforschung, einem Bereich, in den die Pharmaunternehmen weniger investieren, sind die NIH weltweit mit grossem Abstand führend. Sämtliche anderen öffentlichen Institutionen geben weit weniger für die Gesundheitsforschung aus als die NIH.
Kein Wunder also, dass die NIH zu den meisten medizinischen Durchbrüchen der letzten Jahre entscheidend beigetragen haben. Seien es die Abnehmspritzen, die Corona-Impfung oder Immuntherapien gegen Krebs: Die zugrunde liegende Forschung wurde mit Geldern der NIH finanziert. Laut einer Studie basieren 99 Prozent aller zwischen 2010 und 2019 in den USA neu zugelassenen Medikamente auf Forschung, die die NIH unterstützt haben.
Wahr ist aber auch: Dass es bei den NIH Verbesserungsbedarf gibt, bestreiten die wenigsten. Ihre Struktur mit 27 Instituten ist über Jahrzehnte gewachsen und nicht auf grösstmögliche Effizienz optimiert. So gibt es beispielsweise separate Institute für Alkohol- und Drogenmissbrauch – obwohl die Forschungsfragen, Experten und sogar Patienten sich überlappen. Es gab in der Vergangenheit schon Versuche, das zu korrigieren, bislang sind alle gescheitert.
Zudem wird oft kritisiert, die Behörde sei bei dem Versuch, für mehr Gerechtigkeit und Diversität in der Forschung zu sorgen, über das Ziel hinausgeschossen. Bewerber und Anträge seien deshalb zunehmend weniger nach Leistungskriterien bewertet worden.
Hunderte Studien enden abruptTrump hat schnell gehandelt. Gleich an seinem ersten Tag im Amt verhängte er eine Kommunikationssperre für alle Mitarbeiter der NIH. Und er ordnete an, dass die Behörde bei allen von ihr geförderten Projekten überprüfen muss, ob sie den Prioritäten der neuen Regierung entsprechen.
Bei vielen Studien fällt das Urteil offenbar negativ aus. Seit Anfang Februar werden beinahe täglich neue Forschungsprojekte bekannt, denen unvermittelt die Mittel entzogen wurden. Die Vergabe von Fördermitteln ist die Hauptaufgabe der NIH. Nur wenige Forscher sind direkt dort angestellt. Das meiste Geld geht an Wissenschafter an Universitäten, die sich mit aufwendigen Anträgen um Fördermittel bewerben. Die NIH wählen die besten Vorschläge aus und teilen ihr Budget auf diese auf.
Obwohl teilweise bereits Millionen in ihre Studien investiert wurden, müssen viele Forscher nun abbrechen oder eine Zwangspause einlegen. Laut Daten der Internet-Plattform «Grant Watch» sind mittlerweile über 800 Forschungsprojekte betroffen. Eine offizielle Übersicht über die gestoppten Studien gibt es nicht.
Um langfristige Forschung zu ermöglichen, werden Forschungsgelder gewöhnlich für vier Jahre zugesagt. Bisher konnten sich Wissenschafter auch bei einem Regierungswechsel darauf verlassen, eine Finanzierung für die zugesagte Zeit zu erhalten. Stopps bereits laufender Forschungsprojekte waren in der Vergangenheit extrem selten und nur in Fällen massiven Fehlverhaltens vorgesehen.
Aber bitte nicht divers!Rund ein Drittel der abgesetzten Studien enthält Schlagworte rund um Transgender im Projektbeschrieb. Diese Beispiele nimmt die Regierung gerne als Beweis für die von den NIH geförderte «Gender-Ideologie», der sie den Kampf angesagt hat.
Yesterday, @NIH cancelled seven grants for transgender experiments on animals including:- $532K to “use a mouse model to investigate the effects of cross-sex testosterone treatment”
- $33K to test “feminizing hormone therapy in the male rat”
— Department of Government Efficiency (@DOGE) March 5, 2025
Generell geht die Regierung radikal gegen alles vor, was «woke» klingt. Fast die Hälfte aller gestoppten Forschungsprojekte enthält das Stichwort «divers» oder «Diversität» in der Beschreibung. Dabei geht es häufig darum, diverse Patientengruppen für eine Studie rekrutieren zu wollen. Das ist immer dann wichtig, wenn eine Erkrankung eine Bevölkerungs-, Geschlechter- oder Altersgruppe stärker betrifft als andere.
Oft trifft es auch Studien, die sich speziell mit der Gesundheit einzelner Bevölkerungsgruppen beschäftigen. So teilte die Women’s Health Initiative, die weltweit grösste Studie zu Frauengesundheit, Ende April mit, dass die NIH die finanzielle Unterstützung eingestellt hätten. Die Studie läuft bereits seit über dreissig Jahren und untersucht Tausende Frauen, mit dem Ziel, Risikofaktoren für Krankheiten bei Frauen – insbesondere nach der Menopause – zu identifizieren. Nach heftiger Kritik wurde die Förderung jedoch wieder aufgenommen.
Die NIH geben ihr Geld nicht ausDie direkt gestoppten Projekte sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs – sie betreffen insgesamt etwa 1 Prozent aller zurzeit von den NIH geförderten Forschungsvorhaben. Der ehemalige Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an den NIH, Jeremy Berg, weist auf ein weiteres, noch grösseres Problem hin: Die NIH vergeben derzeit deutlich weniger Zusagen für Gelder als gewöhnlich. Während im vergangenen Jahr zwischen Januar und Mitte Mai zirka 10 Milliarden Dollar an Fördermitteln verteilt wurden, sind es in diesem Jahr im gleichen Zeitraum nur etwa 7 Milliarden.
«Wenn sie in diesem Tempo weitermachen, werden sie es nicht schaffen, ihr volles Budget überhaupt auszugeben», sagt Berg. Das Geschäftsjahr in der amerikanischen Behörde endet bereits am 30. September. Der Teil des Budgets, der bis dahin nicht verteilt oder ausgegeben wurde, geht zurück an den Bundeshaushalt. Das käme einer effektiven Kürzung des Budgets der NIH gleich – obwohl die Regierung offiziell eine solche Kürzung gar nicht verfügen darf. Denn über die Budgets der Bundesbehörden entscheidet in den USA der Kongress.
Doch mit einer Vielzahl von Massnahmen hat die Regierung es den NIH verunmöglicht, ihren normalen Betrieb aufrechtzuerhalten. Über 1200 Mitarbeiter wurden entlassen, etwa 6 Prozent der Belegschaft. Treffen, bei denen über die Vergabe von Fördermitteln entschieden wird, wurden wochenlang ausgesetzt.
Sollten die National Institutes of Health tatsächlich grosse Teile ihres Budgets am Ende des Jahres nicht ausgegeben haben, könnte die Regierung das als Argument für tatsächliche Budgetkürzungen nutzen. Das jedenfalls befürchten Beobachter wie Jeremy Berg.
In einem kürzlich veröffentlichten Vorschlag für das nächstjährige Haushaltsbudget hat die Regierung eine Reduktion des NIH-Budgets um volle vierzig Prozent vorgeschlagen. Ausserdem sollen von den 27 Instituten der NIH nur noch 5 übrig bleiben.
Experten gehen jedoch davon aus, dass der Kongress den Vorschlag der Regierung ablehnen und das Budget der Forschungsbehörde nicht oder nur wenig senken wird. «Die Menschen werden sich nicht einfach damit abfinden, die Hoffnung auf Heilung von Alzheimer und Krebs aufzugeben», sagt Berg.
Der neue NIH-Direktor Jay Bhattacharya will die Forschungsbehörde wieder auf die Krankheiten fokussieren, die die amerikanische Bevölkerung tatsächlich betreffen, wie er im Interview mit Fox News sagt. Darunter fallen laut Bhattacharya zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Übergewicht oder Alzheimer.
Doch schon jetzt ist Schaden angerichtet. Das Vertrauen in die NIH dürfte bei den meisten Wissenschaftern deutlich gesunken sein. Und viele Projekte hängen noch in der Schwebe. Dazu gehören auch zahlreiche zu Themen, die laut Bhattacharya weiterhin im Fokus der NIH-Forschung stehen sollen.
So zum Beispiel die Dian-Studie zum genetisch bedingten Alzheimer von Mathias Jucker. Vergangene Woche sollte eine NIH-Kommission eigentlich über ihr weiteres Schicksal entscheiden. Doch dann schaffte es das Projekt doch nicht auf die Tagesordnung.
Bis Ende Juni steht die Finanzierung noch, dann, sagen zumindest die amerikanischen Studienbeteiligten, könne man einpacken. Jucker spricht davon, manche der Projekte in eine Art Energiesparmodus zu versetzen. Man könne voraussichtlich die Patienten weiter betreuen – doch die lang ersehnten Therapieversuche könnten vorerst nicht beginnen. Das hat Folgen für alle Alzheimer-Patienten: «Höhere Geschwindigkeit in der Forschung bedeutet für jeden Betroffenen grössere Chancen, noch von den Erkenntnissen zu profitieren», sagt Jucker. Sand im wissenschaftlichen Getriebe verzögert hingegen den Erkenntnisprozess und damit auch die Entwicklung von neuen Medikamenten.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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