Deutschland sucht den Tour-Sieger. Und hofft auf einen ehemaligen Biathleten


Am Schigymnasium Stams in Tirol haben 31 spätere Olympiasieger die Schulbank gedrückt. Dazu gehen 100 WM-Titel und unzählige Medaillen an Grossanlässen auf das Konto der sportlichen Kaderschmiede – ehemalige Schülerinnen und Schüler haben diese Meriten allesamt im Winter eingeheimst. Dass dereinst ein ehemaliger Zögling die Tour de France vorne mitfährt, war nicht vorgesehen.
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Die Geschichte des Radprofis Florian Lipowitz, 24 Jahre alt, beginnt mit einem Telefonanruf. 2020 wählt der junge Deutsche die Nummer von Ralph Denk, dem Teamchef von Red Bull-Bora-Hansgrohe. Im Podcast «Tourfunk» sagt Denk: «Meine Assistentin sagte, da sei einer am Telefon, der Radprofi werden wolle. Und ich dachte mir: ‹Stell den durch, ich hör mir das einmal an.›» Denk lauscht der Geschichte und ist beeindruckt. Damit beginnt Lipowitz’ Wandel vom Biathleten zum Velorennfahrer.
Lipowitz stammt aus der Kleinstadt Laichringen auf der Schwäbischen Alb; eine Gegend wie gemacht für Wintersport. Er wird Biathlet, deutscher Meister im Nachwuchs, die Familie zieht nach Stams, damit der Filius via Schigymnasium den Weg an die Weltspitze schafft.
Doch ein Kreuzbandriss ändert alles. Die Verletzung lässt nur noch Trainings auf dem Velo zu. Je länger er trainiert, desto mehr Spass hat er daran. 2019 gewinnt Lipowitz den Engadin Radmarathon – 220 Kilometer, vier Alpenpässe, 4000 Höhenmeter. Danach sieht er seine Zukunft nicht mehr im Biathlon.
Zum Gespräch mit dem Teamchef kommt er im Winter mit dem VeloNach dem Anruf bei Denk verabreden sich die beiden zum Mittagessen. Es ist Winter, doch Lipowitz fährt mit dem Velo vor. Woher er komme, will Denk wissen. Lipowitz antwortet: «Aus der Schule.» Die ist 100 Kilometer entfernt, der Teamchef Denk staunt. Heute sagt er: «Das war für mich ein erster Indikator. Wenn der Willen vorhanden ist, dann ist das schon viel Gutes.» Die zwei reden, über zwei Stunden lang, schmieden Pläne für die Zukunft. Dann sitzt Lipowitz wieder auf das Velo und fährt 100 Kilometer zurück nach Hause. Denk bringt ihn zunächst bei einem kleinen Team aus Österreich unter. Seit 2023 fährt er für Red Bull-Bora-Hansgrohe.
Fünf Jahre später in Narbonne am zweiten Ruhetag der Tour de France: Plötzlich steht Lipowitz im Rampenlicht. Geplant war das nicht. Denn nach der Vuelta im vergangenen Jahr absolviert er erst seine zweite Grand Tour. Er sollte lernen, Erfahrungen sammeln, an der Seite des Routiniers Primoz Roglic. Der 35-Jährige hat vier Mal die Vuelta, einmal den Giro d’Italia gewonnen und ist Olympiasieger im Zeitfahren. Lipowitz hingegen kannten im vergangenen Jahr nur Insider, jetzt liegt er im Gesamtklassement auf Rang drei – hinter den Granden Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard.
Ausserdem trägt er jetzt das weisse Trikot des besten Jungprofis, nachdem der zweifache Olympiasieger Remco Evenepoel die Tour aufgegeben hat. In den harten Pyrenäen-Etappen der zweiten Woche hielt Lipowitz sich schadlos. Er sagt: «Ich habe nie ans Gesamtklassement oder sogar an das Podest gedacht.» Sein Ziel sei immer noch, überhaupt in Paris anzukommen.
Der Boulevard nennt ihn «Super Lipo» und ventiliert allesEinfach in Paris ankommen? Das sieht das deutsche Sportpublikum anders. Dessen Begeisterung lässt sich bekanntlich leicht entfachen. Reüssieren deutsche Athletinnen im Biathlon, schauen alle hin, das Gleiche gilt im Skispringen. Und Gleiches galt auch für die Tour de France, als Jan Ullrich 1997 triumphiert hatte. Plötzlich sass während jeder Etappe gefühlt die ganze Republik vor dem Fernseher.
Ullrich wurde später des Dopings überführt, ebenso Andreas Klöden, der 2006 als bisher letzter Deutscher auf das Tour-Podest gefahren war. Wegen der Skandale wandte sich die deutsche Öffentlichkeit von der Tour ab. Die öffentlich-rechtlichen Sender zeigten wegen der Doping-Wirren die Tour de France jahrelang nicht mehr im Live-Programm.
Heute ist das undenkbar. Deutschland glaubt, in Lipowitz endlich wieder einen Klassementsfahrer gefunden zu haben, hofft auf einen zweiten Toursieg – in naher Zukunft durch Lipowitz. Der Boulevard nennt ihn bereits «Super Lipo» oder «Teufelskerl» und berichtet über jede Kleinigkeit. Ein harmloser Sturz sorgt für Aufregung, der Besuch seiner Freundin am Ruhetag wird zur Meldung.
Auf Augenhöhe mit Vingegaard? Lipowitz winkt abDoch der kometenhafte Aufstieg wirft Fragen auf, gerade im Radsport mit seiner Dopingvergangenheit. Lipowitz sagt, diese Zeiten seien vorbei. «Ich wurde an dieser Tour de France schon fünf Mal getestet. Ich bin sauber und will mit mir im Reinen sein.» Seinen Leistungssprung erklärt er mit neuen Ansätzen, die Sportwissenschafter von Red Bull Bora-Hansgrohe gelten als besonders innovativ: Erstmals arbeitet Lipowitz mit einem Ernährungscoach, zudem blieb er gesund und konnte mehr trainieren als in den Jahren zuvor.
Am Ruhetag wirkt Lipowitz, als wisse er nicht genau, was er von der grossen halten solle. Er gilt als introvertiert, das bestätigt er selbst: «Durch den Rummel muss ich wohl durch. Ich versuche, mich vom Drumherum nicht verrückt machen zu lassen», sagt er.
Manche Stimmen in Deutschland wähnen ihn trotzdem schon auf Augenhöhe mit Jonas Vingegaard, dem gegenwärtigen Gesamtzweiten und zweifachen Sieger der Tour de France. Lipowitz dämpft die Erwartungen und sagt: «Vingegaard ist weit entfernt. Das gilt auch dann, wenn er einen schlechten und ich einen guten Tag habe.»
Das Pokerface hat Lipowitz schon draufTrotzdem sagt er, er werde auch in der Schlusswoche versuchen, die eine oder andere Attacke zu platzieren – sollten die Beine das zulassen. «Ich will das Rennen geniessen und mir keinen Druck auferlegen», sagt er. Dabei schwingt der Respekt vor den kräftezehrenden Alpenetappen der letzten Woche mit. Er kenne noch nicht alle Anstiege, die es bewältigen gebe, sagt Lipowitz: «Das ist vielleicht gut so, wenn ich nicht genau weiss, was mich erwartet.»
Auch sein sportlicher Leiter, Rolf Aldag, dämpft die Erwartungen. Lipowitz werde die Captain-Rolle weiterhin mit Roglic teilen, sagt Aldag. Roglic belegt im Gesamtklassement zurzeit Rang sechs, mit fast drei Minuten Rückstand auf Lipowitz. «Wir haben zwei Trümpfe, von denen wir einen auf das Podest in Paris bringen wollen», sagt Aldag.
Lipowitz sagt, es wäre ihm egal, stünde Roglic an seiner Stelle in Paris auf dem Podest. «Wir sind ein Team», sagt er und setzt ein Pokerface auf. Das hat er während der ersten zwei Tour-Wochen schon gelernt, er lässt sich nicht aus der Reserve locken. Vielleicht weiss Lipowitz aber auch einfach, dass seine Zeit noch kommt.
Oder wie es sein Entdecker und Teamchef Denk sagt: «Es ist viel schöner einen Fahrer wachsen zu sehen, als für viel Geld einen gestandenen Profi zu verpflichten.»
Sarah Meyssonnier / Reuters
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