INTERVIEW - «Der Speaker rief: ‹Kambundji is in front!› – oder irgend so etwas. Da dachte ich: Weiter! Weiter! Weiter!»


Michael Buholzer / Keystone
Ditaji Kambundji, mit welchem Gedanken sind Sie nach dem WM-Titel ins Bett gegangen, und wie haben Sie geschlafen?
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Geschlafen habe ich vielleicht dreieinhalb Stunden. Ich lag da, mit Gedanken an das Rennen und alles, was passiert ist an dem Abend. Es ist gar nicht einfach, das mitten in der Nacht allein im Bett zu verarbeiten. Ich konnte aber noch mit meinen Schwestern telefonieren. Das ist der Vorteil der Zeitverschiebung: Man kann sich mit Leuten zu Hause unterhalten, wenn man den Schlaf nicht findet.
Sie haben gesagt, Sie hätten noch nie im Leben so viele Tränen vergossen. Warum hat Sie der Erfolg derart aufgewühlt?
Ich bin ohnehin nahe am Wasser gebaut, es braucht meist nicht sehr viel, damit ich zu Tränen gerührt werde. Nach dem Rennen war ich extrem stolz, dass ich hatte umsetzen können, was ich für möglich gehalten hatte. Es ist speziell, wenn man in einem Final ist, in dem alle gewinnen können. Mir hat das gezeigt: «Dann kannst du das auch!» Dass ich es dann auch geschafft habe, war unglaublich.
Werner Günthör und André Bucher waren vor Ihnen die einzigen Schweizer Weltmeister. Sind Sie sich bewusst, dass Sie Sporthistorisches geleistet haben?
Im ersten Moment dachte ich nicht daran, da zählte für mich bloss, dass ich das erreicht hatte, was ich mir vorgenommen hatte. Erst im Nachhinein merke ich, dass es etwas Spezielles ist.
Was war Ihr letzter Gedanke vor dem Start?
Ich hatte für mich ein paar Wörter aufgeschrieben, die mir helfen sollten, meine Fähigkeiten dominieren zu lassen und das auszuführen, was ich kann. Ich wollte Freude haben. Ich wusste, dass ich unter Druck meine besten Leistungen zeigen kann. Solche Dinge habe ich mir im Kopf immer wieder gesagt.
Wie schaffen Sie es, alles auszublenden und sich nur auf das Rennen zu konzentrieren?
Ich habe das in den vergangenen Jahren gelernt, teilweise setze ich dafür auch Atemtechniken ein. Ausserdem versuche ich, alles auf die simplen Dinge und auf mich zu reduzieren. Es geht nicht darum, die anderen zu schlagen, sondern das abzurufen, was ich kann. Klar will ich gewinnen. Aber ich weiss: Wenn ich umsetze, was ich kann, wovon ich auch weiss, dass ich es kann – dann ist etwas Gutes möglich. Darauf habe ich mich konzentriert.
reg. Die Weltmeisterin über 100 Meter Hürden wuchs als Nesthäkchen mit drei Schwestern, die alle Leichtathletik betrieben, quasi auf dem Sportplatz auf. Ihr Vater stammt aus Kongo-Kinshasa, ihre Mutter aus Bern. Die zehn Jahre ältere Schwester Mujinga ist mit elf internationalen Medaillen die erfolgreichste Schweizer Athletin der Geschichte.
Als Ihre Schwester Mujinga an den EM 2016 ihre erste internationale Medaille gewann, sagte sie später, sie habe sich vor dem Start nur auf einen Fleck auf der Bahn konzentriert. Haben Sie auch so einen Trick angewandt?
Ich glaube, das machen viele Sprinterinnen. Irgendetwas musst du ja anschauen, also fixierst du etwas auf dem Tartan. Bei mir ist das immer so, nicht nur in grossen Rennen.
Sie waren schon an der ersten Hürde vorne. Haben Sie sofort gespürt, dass etwas Grosses möglich ist?
Während des Rennens habe ich den Stadion-Speaker gehört, das ist mir noch nie passiert. Bei der siebten Hürde? Oder der achten? Vielleicht auch bei der zehnten. Jedenfalls rief er: «Kambundji is in front!» – oder irgend so etwas. Da dachte ich: Weiter! Weiter! Weiter! Und dann habe ich mich über die Ziellinie geschmissen. Das ist alles, was ich noch weiss. Von der ersten bis zur achten, neunten Hürde weiss ich nur noch, dass ich mein Rennen gelaufen bin.
Man denkt also nicht, wenn man um einen WM-Titel sprintet?
In guten Rennen muss man nicht viel denken. Es geht nicht so: «Ah, hier noch eine Hürde! Und dort habe ich angeschlagen. Und die hat dies und das gemacht. Und jene muss ich aufholen.» Das sind die Gedanken, die dazu führen, dass ein Rennen weniger gut herauskommt. Ich war froh, dass ich auf Bahn 3 war. Ich dachte: Die da drüben können es unter sich auskäsen. Ich mache mein eigenes Ding.
Objektiv gesehen waren Sie nur Aussenseiterin, Sie selbst haben aber an Gold geglaubt. Warum?
Ich konnte in dieser Saison das Grundniveau erhöhen, die Zeiten, die ich regelmässig lief, waren besser als noch 2024. Das ist das, was es braucht, um die ganz, ganz schnellen Zeiten laufen zu können. Darum wusste ich: Ich habe das in den Beinen.
Auch so schnell, wie Sie es letztlich geschafft haben?
Ich wusste, dass ich eine Zeit im Bereich von 12,20 laufen kann, aber dafür musste alles zusammenpassen. Ja, das Feld war sehr stark, aber es gab nicht eine oder zwei Athletinnen, die während der ganzen Saison dominiert hätten. Einige schlugen mich mehrmals, aber ich habe sie dann doch auch einmal geschlagen.
Vor allem die letzten Rennen vor den WM dürften Ihnen viel Selbstvertrauen gegeben haben.
Weltklasse Zürich war gut für die Vorbereitung, die Athletissima Lausanne ebenfalls, ich rannte beide Male aufs Podest. Wenn es eine gegen eine ging, habe ich es in den vergangenen Jahren immer wieder geschafft, mich nach vorne zu kämpfen. Deshalb wusste ich: Die Welt ist sehr offen. Im Finalfeld kann jede gewinnen – ich inbegriffen.
Sie wirkten die ganze Saison ruhig, als wüssten Sie, dass Sie trotz guten Zeiten noch mehr in den Beinen haben. Woher kam diese Gelassenheit?
Ich habe sehr viel Vertrauen in das, was wir machen. In die Struktur, die wir aufgebaut haben, mit dem Headcoach Florian Clivaz in Bern und der Hürdenspezialistin Claudine Müller in Basel. Auch der Saisonaufbau mit der Topform für die WM war gut, und ich hatte im Winter schon eine gute Hallensaison gehabt. Ich war auf dem richtigen Weg, ich war gesund, ich war parat. Und ich hatte das Gefühl, dass ich an den WM noch etwas draufsetzen kann.
Wann reifte die Überzeugung, dass es sogar Gold geben könnte?
Es gab schon während der Saison Momente, in denen ich dachte: «Ich habe das wirklich in mir drin. Ich glaube, ich könnte Weltmeisterin werden.» Klar, das tönt jetzt so: «Ich wusste es . . .» Nein, ich wusste überhaupt nichts. Aber ich habe auch nicht gedacht, dass es unmöglich sei.
Sie sind eine der besten Zeiten gelaufen, die man in dieser Disziplin je gesehen hat, sagen aber, Sie setzten sich keine Grenzen. Wie lernt man so viel Selbstvertrauen? Von Ihrer Schwester Mujinga, die genau gleich denkt?
Ich hatte das Privileg, so aufwachsen zu können. Unsere Eltern brachten uns bei, dass alles möglich sei. Mein Vater sagte immer wieder: «Eines Tages wirst du sie alle schlagen!» Es ist unglaublich schön, diese Menschen um mich zu haben, die an mich glauben. Deshalb sage ich auch zu mir selbst, dass es nichts bringt, mir Grenzen zu setzen. 12,24 Sekunden: Das ist eine sehr, sehr coole Leistung, ich werde das intensiv geniessen. Aber irgendwann gehen wir zurück an die Arbeit, und ich weiss, dass ich schneller laufen will.
Lange waren Sie für alle die kleine Schwester von Mujinga. Jetzt haben Sie etwas erreicht, was diese nie geschafft hat. Wie ist das?
Ich bin immer noch die kleine Schwester. Meine Position in der Familie hat mich stark geprägt, es ist schön, dass ich so viel Unterstützung von meinen drei älteren Schwestern hatte. Mujinga half mir in der Leichtathletik, sie hat mir den Weg gebahnt. Und sie hat mir die Augen für das geöffnet, was alles möglich ist. Sie war die Erste, die sich extrem für mich freute, weil sie genau weiss, was alles dahintersteckt. Es ist schön, dass ich diese Medaille heimbringen kann. Und Mujinga ist sicher sehr stolz auf mich.
Das Etikett, dass Sie die Kleine sind, hat Sie nie gestört?
Es ist ja nicht falsch. Und dass ich die kleine Schwester bin, heisst nicht, dass ich nicht Grosses erreichen kann. Ich hatte nie ein Problem mit meiner Position in der Familie, ich fand sie sehr schön.
Wie werden Sie damit umgehen, dass man von Ihnen als Weltmeisterin nun in jedem Rennen etwas Besonderes erwartet?
Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Im Hürdensprint ist das Feld so stark und so wechselhaft, dass in jedem Rennen eine andere vorne sein kann. Das ist eine der spannendsten Disziplinen, und ich werde in jedem Rennen versuchen, mich ganz nach vorne zu kämpfen. Wir werden uns alle gegenseitig pushen.
Sie sind erst 23, und es bleiben Ihnen nicht mehr viele Ziele. Wie ist das?
Das ist überhaupt nicht so. Es gibt immer noch viel zu erreichen. Ich habe das Gefühl, dass es jetzt erst richtig anfängt.
Normalerweise stehen nach WM noch Rennen an, jetzt ist die Saison zu Ende. Sind Sie froh, oder hätten Sie sich gerne nächste Woche noch bei Weltklasse Zürich vom Heimpublikum feiern lassen?
Als ich die Saisonplanung sah, war meine Einstellung: «Das ist schade, die WM ganz zum Schluss.» Es ist ein schönes Gefühl, nach dem Grossanlass gemeinsam mit dem Schweizer Publikum zu feiern. Aber Weltklasse als letzter Wettkampf vor den WM hat auch «gfägt», ich war in Topform, das machte das Rennen speziell. Nun die Saison auf einem solchen Hoch abzuschliessen, ist aussergewöhnlich. Ich würde nichts daran ändern wollen.
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