KOMMENTAR - Was passiert, wenn endlich alle mitspielen: Ausgerechnet der Fussball zeigt, wie Gleichstellung funktionieren kann


Michael Buholzer / Keystone
Die vergangenen Wochen haben etwas verschoben: Ein Sonderfall wurde normalisiert. Frauen spielen Fussball – und alle schauen hin. Mehr als 600 000 Zuschauerinnen und Zuschauer sahen sich die Spiele der Europameisterschaft in der Schweiz live an, am Fernsehen waren es mehrere Millionen. Manche Fussballerinnen, die es gewohnt sind oder waren, vor wenigen tausend oder sogar nur ein paar hundert Leuten zu spielen, rührte das zu Tränen.
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Die öffentliche Aufmerksamkeit ist das Ergebnis einer idealen Konstellation: ein Turnier im eigenen Land, die Tickets waren günstig, die Schweizerinnen erfolgreich, das Wetter war gut, die Stimmung mitreissend, das Niveau hoch, die Veranstaltung überall präsent. Der Erfolg der Frauenfussball-EM ist aber viel mehr als gutes Timing und gutes Marketing, er ist auch das Resultat eines über hundertjährigen Kampfes. Und der Beweis: Wer will und Geduld hat, kann.
Die Frauenfussball-EM 2025 ist die Geschichte einer Befreiung – von Vorurteilen, Verboten und Verhinderung. Die Verwandlung einer Nischenerscheinung in ein Mainstreamprodukt fand ausgerechnet in der archaischen und männlich geprägten Welt des Fussballs statt.
Wie geht das? Und was lässt sich daraus über Gleichstellung lernen?
Seit Donald Trump die USA regiert, sind Gleichstellungsanliegen nicht mehr angesagt. Für grosse Firmen ist es unattraktiv oder sogar geschäftsschädigend geworden, sich mit Diversity-Programmen zu exponieren. Tatsächlich ist die Wirkung solcher Aktivitäten zweifelhaft, weil sich Einstellungen und das Verhalten von Menschen nur sehr schwer verändern lassen. Meistens geht es um reine Imagepflege. Dennoch sandte der leichtfertige Rückzug vieler Firmen aus den Gleichstellungs-Engagements ein klares Signal: Backlash.
Talente blieben viel zu lange verstecktManchen Männern schien die Entwicklung in Amerika gerade recht zu kommen. Von nun an, behaupteten sie, zähle wieder Leistung. Gerne ging in dieser Diskussion ein entscheidender Fakt unter: Leistung lässt sich erst richtig messen, wenn alle am gleichen Punkt starten, wenn alle dieselben Chancen haben. Dieser Punkt ist noch lange nicht erreicht. Dafür gibt es viele Belege: Die Löhne von Frauen sind tiefer. Nachdem sie Kinder bekommen haben, sinkt ihr Einkommen deutlich. Je höher die Kaderposition, desto seltener sind die Stellen von Frauen besetzt.
Solche Ungleichheiten lassen sich nicht durch erzieherische Workshops verändern. Entscheidend aber wären ein paar Veränderungen der Regeln, damit das Spiel fairer wird. Die wichtigste: Zugang für alle zu schaffen. Erst wenn alle teilhaben können, entdeckt man die grössten Talente – und das ist ganz im Sinne eines liberalen Wettbewerbs.
Die Fähigkeiten von Frauen wie Sidney Schertenleib, Lia Wälti oder Géraldine Reuteler hätte allerdings noch vor wenigen Jahrzehnten gar niemand bemerkt. Zwar wurden in England bereits Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts publikumswirksam die ersten Partien Frauenfussball ausgetragen. Danach aber erlebten Frauen, die Fussball spielen wollten, hundert Jahre lang herbe Rückschläge: So verbot der englische Fussballverband seinen Mitgliedern bald Spiele mit oder gegen Frauen, um deren «Gebärfähigkeit» nicht zu beeinträchtigen.
Die weibliche Fruchtbarkeit nicht zu gefährden, ist ein Argument, das sich in der Geschichte wiederholt, um Frauen von Sport, beruflichen oder politischen Aktivitäten abzuhalten. Zusammen mit einer Palette anderer seltsamer Begründungen: Es stehe Frauen nicht, sich körperlich oder geistig zu betätigen, der Wettkampf entspreche nicht ihrem Naturell und verhindere, dass sie sich in ihrer Rolle als gütige Mutter entfalteten. Diese Stereotype sind bis heute tief verankert.
Für jene Männer, denen ihr Platz im Sport, im Beruf, in der Gesellschaft schon immer zugestanden wurde, waren und sind die Argumente praktisch: Sie müssen ihre Macht mit weniger anderen teilen. Und sie können ungehindert tun, was ihnen als menschlicher Reflex nicht einmal zu verübeln ist: jene fördern, die ihnen ähnlich sind.
Frauen hingegen bringen diese alten Argumente und Bilder oft in ein unmögliches Dilemma. Um gesehen zu werden, müssen sie sich behaupten und fordernd sein, sich mit einer gewissen Härte in der Männerwelt einen Platz erarbeiten. Gleichzeitig brechen sie so mit den Erwartungen, die implizit oder explizit an sie herangetragen werden: harmonisch, leise, ansehnlich und dankbar zu sein.
Fussballerinnen prägen ein neues FrauenbildDie Fussballerinnen an der diesjährigen EM traten mit einem wohltuenden Selbstverständnis auf und schafften es, geschickt ein neues Frauenbild zu prägen – ohne auf weiblich konnotierte Eigenschaften und Merkmale zu verzichten: Sie kämpften hart und spielten fair, sie halfen sich auf und umarmten sich. Sie trugen Regenbogen-Armbinden als Vertreterinnen eines Milieus, in dem Homosexuelle von jeher einen Platz hatten. So standen sie für eine ehrliche zwischenmenschliche Toleranz und eine friedliche Stimmung, die dem Männerfussball oft fehlen.
Die grosse Bühne bespielten die Frauen geschickt: Sie trugen zu den kurzen Hosen lange Rossschwänze, sie flochten ihre Haare, lackierten ihre Nägel, schminkten sich oder schminkten sich absichtlich nicht, sie teilen ihr Leben in sozialen Netzwerken, sprechen über ihre Liebe zu anderen Frauen und Männern. Manche haben kleine Kinder und machen grosse Karrieren und nutzen die Kamera, die sie nun ins Grossformat zoomt. Die Frauen beweisen, dass sie ihren eigenen Weg gehen können – und dieser absolut massentauglich ist. So sind sie zu Vorbildern geworden, im besten Sinne zu einer Selbstverständlichkeit. Diese Sichtbarkeit ist wichtig für Sponsoren, aber auch für Mädchen und junge Frauen, die nun sehen, was für sie möglich ist.
Die Fussballerinnen ernten die Anerkennung für ihre Hartnäckigkeit. Sie und ihre Vorkämpferinnen haben sich über ein Jahrhundert lang gewehrt: dagegen, vom Fussball ausgeschlossen zu sein, gegen schlechte Arbeitsbedingungen, gegen Lohndiskriminierung und gegen Einbussen bei ihrem ohnehin geringeren Einkommen, wenn sie Mutter wurden. Sie mussten ungebetene männliche Küsse, Häme, ewig wiederkehrende Voreingenommenheit, Zurückweisungen und Feindseligkeiten über sich ergehen lassen.
Natürlich ist die Welt nach diesem EM-Turnier noch nicht gut und gerecht. Richtigerweise fordern die Frauen nun umso mehr Zugang zu Vereinen, Sportplätzen, Förderung und professionellem Training. Sie fordern, was ihnen längst zusteht: Gleichstellung. Die Nationaltrainerin Pia Sundhage mahnt im neu erschienenen Buch «Das Recht zu kicken», verfasst von zwei Forscherinnen, der Kampf werde noch sehr lange weitergehen: «Wir kämpfen nicht nur für unsere Generation, sondern auch für die nächste und übernächste. Einstellungen und Vorurteile zu ändern, ist nicht einfach.» Gleichstellung bedeutet auch: nicht aufzugeben.
Künftig gilt: klare Ziele setzen und alle mitspielen lassenZum Glück geht es in dieser Auseinandersetzung aber nicht nur um hehre Motive, sondern auch um Geld und um Macht. Der Frauenfussball ist populär und hat Potenzial, in den nächsten fünf Jahren soll er sich zur fünftgrössten Sportart überhaupt entwickeln. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Marktforschungsunternehmens Nielsen Sports und des Lebensmittelkonzerns Pepsico. Die Verbände brauchen Grossveranstaltungen, mit denen sich neue Märkte erschliessen und somit neue Einkünfte im Wert von Hunderten Millionen Euro generieren lassen. Endlich sehen die Funktionäre in den Frauen nicht mehr einen Störfaktor, sondern einen Business-Case.
Diese Erkenntnis, gepaart mit einem grösser werdenden gesellschaftlichen und rechtlichen Druck, beschleunigte auch die Teilhabe der Frauen am Fussball: Immer mehr Länder investierten in den Nachwuchs, führten Profiligen ein, glichen Prämien und Löhne an, verbesserten den Zugang, die Sozialleistungen, die Familienfreundlichkeit, die Infrastruktur. Und beobachteten, wie rasch sich der Erfolg einstellte.
Was für den Fussball gilt, gilt auch für die Wirtschaft: Es ist im Sinne der Ökonomie, aus einem möglichst grossen Pool zu rekrutieren – und deshalb endlich die Startlinie für alle an denselben Ort zu verschieben. Für Arbeitgeber heisst das zum Beispiel, Stellen auszuschreiben (und dabei auf die Formulierungen zu achten), Bewerbungsprozesse und Vergütungssysteme transparent zu gestalten, klare Anforderungskriterien zu kommunizieren, Arbeitszeiten zu flexibilisieren. Dafür zu sorgen, dass alle mitspielen, und zwar bis in die obersten Gremien, anstatt Kader- und andere interessante Positionen nach persönlichem Gusto unter einem kleinen Zirkel von sich ähnelnden Gleichgesinnten aufzuteilen.
Schliesslich setzt sich, wer erfolgreich sein will, in der Regel klare, verbindliche Ziele. So, wie es etwa der englische Fussballverband 2017 in Bezug auf die Anzahl Spielerinnen und Zuschauer im Frauenfussball getan hat. England trug fünf Jahre später die Europameisterschaft aus, und sein Frauenteam gewann. An dieser EM wiederholte sich der Erfolg. Was einmal mehr beweist: Wer das Potenzial nutzt, wird belohnt.
nzz.ch