Von der Bratwurst in St. Gallen bis zu den Hellseherinnen im Schweizer Nationalteam: Diese EM-Momente bleiben


Wer vier Wochen lang durch das Universum namens Fussball-Europameisterschaft reist, erlebt vieles. Natürlich sind es die Spiele, die am meisten Aufmerksamkeit absorbieren. Aber manchmal bleiben Erlebnisse abseits des sportlichen Geschehens viel länger haften.
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Bratwurst ist besser als Chorizo
In jüngster Zeit hat sich an den grossen Fussballturnieren die Mode eingeschlichen, dass Fans auf Kartonschildern kulinarische Vorzüge der teilnehmenden Länder gegeneinander ausspielen. Auf den Schildern stehen kryptische Dinge wie «Pizza better than Fish and Chips» (Italien – England 1:2) oder «Cervelat better than Chorizo» (Schweiz – Spanien 0:2). Merke: Meist unterscheidet sich das Resultat des Kulinarik-Duells von jenem auf dem Spielfeld.
In St. Gallen gab es vor dem Viertelfinal der Schweizerinnen natürlich keinen Cervelat, sondern Bratwurst, «Bratwurst better than Chorizo» also – dieses Schild hätte selbstverständlich zur Halbfinal-Qualifikation der Schweiz gereicht. Item: Auch ohne Schweizer Halbfinal-Beteiligung hat die Nachbarin, eine glühende Anhängerin der Engländerinnen, ihr ganzes Umfeld mit ihrer EM-Euphorie angesteckt. Also organisiert sie Public Viewings, und der Fernseher wird auf die Dachterrasse geschleppt, zurück in die Stube, auf den Balkon. Je nach Wetterprognose.
Die nachbarschaftliche Euphorie führt selbstredend auch zu kulinarischen Experimenten. Was isst der Engländer am Sonntag, am Abend des Finals? Sunday Roast, of course, Yorkshire Pudding, Mashed Potatoes, Gravy. Passt zwar nicht zur Jahreszeit, aber immerhin zum Wetter. Es mundet vorzüglich. Und Europameisterinnen werden die Engländerinnen ja dann auch noch. Also: «Sunday Roast better than Chorizo». (Christof Krapf)
Angekommenin der nächsten Generation
«Die ist blöd», sagte der Göttibub. 2019 war’s, die USA brillierten an der Frauen-WM in Frankreich. Ihr Star Megan Rapinoe zeigte mit ihrem Jubel, weit ausgebreitete Arme, umfassendes Selbstbewusstsein. Der Bub war sieben Jahre alt, spielte selbst im Quartierverein, und es war anzunehmen, dass das Urteil über die US-Fussballerin mit den lila Haaren in der Schule unter den Jungs gefällt worden war.
In diesem EM-Sommer sind andere blöd: Die Norwegerinnen, die im ersten Gruppenspiel gegen die Schweiz so viel Zeit vertändelten. Unfair! Die Isländerin Sveindis Jonsdottir, die in der zweiten Partie den Ball bei jedem ihrer Langstrecken-Einwürfe sorgsam mit einem weissen Tuch trocknete. Nervtötend!
Gut war hingegen Iman Beney, nein: «So gut!» Oder Géraldine Reuteler. Nur hätte sie im zweiten Spiel besser ein bisschen weiter vorne gespielt. Plötzlich waren mit dem Göttibub Fachdiskussionen möglich, die sich bis jetzt auf die Spiele des Männer-Nationalteams oder Champions-League-Partien beschränkt hatten. Alle Kollegen in seiner Klasse schauten die Spiele, sagte er.
Wenn sich männliche Teenager dem Frauenfussball zuwenden, hat dieser einen Schritt vorwärts gemacht, der weiter führt als all die Rekorde, die an der EM gebrochen wurden. Dann ist er angekommen in der nächsten Generation – und wird dort im besten Fall zur Normalität.
Ob es schon Zeit ist für ein Beney-Shirt als Geburtstagsgeschenk? (Christine Steffen)
Völlig losgelöst in Genf
Charlotte Wilson / Uefa via Getty
Der Beobachter wird von starken Zweifeln heimgesucht. Die Schweizerinnen knorzen und liegen in ihrem letzten Gruppenspiel gegen Finnland 0:1 im Rückstand, brauchen aber für den Vorstoss in die Viertelfinals mindestens ein Remis. Hoch oben auf der Medientribüne im Stade de Genève wird die für das Turnier-Aus vorgesehene Textversion vorbereitet. Die 90. Minute ist vorbei, unten auf dem Rasen breitet sich taktische Anarchie aus, genährt durch Verzweiflung. Das war’s wohl. Adieu. Doch dann schiesst Géraldine Reuteler in der 92. Minute auf’s Tor. Der Schuss missrät ihr zwar, wie zu sehen ist und wie sie hinterher bestätigt. Aber der Ball fliegt vor die Füsse der zuvor eingewechselten Riola Xhemaili. Tor. 1:1. Im Stadion brodelt’s.
Das emotionale Delirium vernebelt die Sinne. Als die Spielerinnen hinterher vor den Medien reden, sind sie voller Glückshormone, aufgeputscht bis zum Gehtnichtmehr. Reuteler will nach dem 0:1 «in den Augen von jeder Mitspielerin» abgelesen haben, dass die Schweiz noch ein Tor erziele, wie sie im Interview sagt. So viel Entschlossenheit, überall. Und Xhemaili? Sie sagt, sie habe «genau» gewusst, dass Reuteler den Ball in den Strafraum spielen werde, «genau» zu ihr, weil sie auch gewusst habe, wo sie «genau» stehen müsse, um nicht vom «huere» Videoschiedsrichter zurückgepfiffen zu werden.
Völlig losgelöst, vor Mitternacht, in Genf. Hellseherinnen noch und noch. Und ohne jeden Zweifel. Danach. (Peter B. Birrer)
Das Mädchen in Brooklyn
Die Sportplätze an den Brooklyn Bridge Tiers am East River bieten einen atemberaubenden Blick auf die Skyline von New York. Doch an diesem frühen Abend schenkt niemand der malerischen Aussicht Beachtung. Stattdessen wird Sport betrieben, die Amerikaner spielen Basketball, Hockey, Pickleball – und auch Fussball. Die Teenager ahmen ihre Vorbilder nach, die sie im Fernsehen während der Klub-WM der Männer und der Frauen-EM beobachten. Auf den Fussballplätzen wird in Kleingruppen trainiert, einige Jungs haben sich zu einem lockeren Plauschmatch über den halben Platz verabredet.
Am Seitenrand übt ein Mädchen im letzten Jahr ihrer Highschool-Zeit für sich allein. Sie feilt an ihrer Technik: Ballannahme, Passspiel, Ballführung. Sie dribbelt durch Hütchen, jongliert den Ball, spielt gegen eine Betonwand. Immer wieder kommen die Jungs auf sie zu und fragen, ob sie nicht mitspielen wolle. Doch sie lehnt schüchtern ab. Das Spiel der Jungs sei ihr zu körperlich, erklärt sie. Täglich ist sie auf diesem Sportplatz, Fussball ist ihre grosse Leidenschaft. In der Schule belegt sie immer den Fussballkurs, aber dieser wird nur einmal im Jahr für zwei Monate angeboten.
Für die Zeit nach der Schule denkt sie über ein Studium im Bereich Innenarchitektur nach – sollte es mit einer Profi-Karriere als Fussballspielerin nicht klappen. Hätte sie mit den Jungs mithalten können? Natürlich . . . (Sven Haist)
Der Fussball,so vertraut und doch so anders
Denis Balibouse / Reuters
Die Stufen zum Joggeli hoch, so wie Hunderte Male in den vergangenen 35 Jahren. Zum ersten Mal jedoch stehen da nicht Männer auf dem Rasen. Was vor vier Wochen zum EM-Start noch merkwürdig wirkte, ist am Finalspiel bereits vertraut. Unerwartet vertraut. Es liegt zwar auf der Hand, dass sich eine Frau mit Sportlerinnen mehr identifizieren kann als mit Sportlern. Doch mit diesem Turnier nahm etwas Raum ein, dessen Fehlen zuvor gar nicht bemerkt worden war.
Viele Frauen teilen in diesem Juli das Gefühl der plötzlichen Verbundenheit mit dem Geschehen auf dem Rasen – zwischen Staunen und einer Art Aufgekratztheit. Es ist der Zauber eines Neubeginns, selbst bei jenen, deren Faszination für diesen Sport doch schon vor so langer Zeit hier im Stadion seinen Anfang genommen hat. Nach vier Wochen fragt man sich: Was macht dieses Turnier mit dem Fussballpublikum? Dem weiblichen, das bisher immer den Männern zuschaute? Dem weiblichen, das neu zum Fussball gefunden hat? Dem männlichen, das die weibliche Variante lieben gelernt hat? Wo findet der Frauenfussball seinen Platz in den Agenden und Gewohnheiten der Menschen, die sich schon jetzt Woche für Woche zwischen diversen Wettbewerben und Ligen entscheiden müssen? Das lässt sich noch nicht sagen.
Bald übernimmt der FCB im St.-Jakob-Park wieder, die Männer wohlgemerkt. Anton und Dominik und Philip auf dem Rasen. Wie merkwürdig. (Eva Breitenstein)
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