Finanzexperte fordert: KI muss nicht nur clever, sondern auch sicher sein

Künstliche Intelligenz (KI) verändert die Finanzwelt in hoher Geschwindigkeit – weil sich ihre Nutzungsreife schnell weiterentwickelt und ihre Einsatzmöglichkeiten sehr vielfältig sind. Beispielhaft drei heute schon häufige Einsatzgebiete im Asset Management: KI kann täglich unter anderem tausende Wirtschafts- bzw. Finanztexte – Börsenberichte, Analystenkommentare, Unternehmensmeldungen und mehr lesen – und einschätzen, wie sich neue Informationen auf einzelne Aktien auswirken.
Zudem kann KI in Echtzeit beobachten, wie sich Preise an den Kapitalmärkten entwickeln, und erkennt dadurch, wie Investoren Nachrichten gerade bewerten. Drittes Beispiel: KI kann die Qualität klassischer Portfoliomodelle verbessern, indem sie Renditeerwartungen nicht nur aus der Vergangenheit, sondern auch von aktuellen Trends und Prognosen ableitet.
Künstliche Intelligenz kann also heute schon viel. Dabei befindet sich die Finanzwelt erst am Anfang eines gigantischen KI-Booms: Die Anzahl der Anwendungen wird schnell und auf Jahre hinaus weiter zunehmen. Zwar haben sich die Vorteile von KI im Asset Management langsamer als in anderen Branchen herumgesprochen, aber mittlerweile sind sie den Investmentgesellschaften bekannt.
Auch hierzu drei Beispiele: KI verarbeitet riesige Datenmengen in Sekundenschnelle – viel schneller als Analystenteams es jemals könnten. KI erkennt Muster und Zusammenhänge, die für Menschen zu komplex oder auch völlig unsichtbar sind. Und sie berücksichtigt deutlich mehr Einflussfaktoren als klassische Investmentansätze – und kann deshalb fundiertere Investmentvorschläge machen.
Chancen und Risiken liegen eng beieinanderAllerdings wissen Asset Manager aus ihrem Investmentalltag natürlich: Wo Chancen liegen, gibt es auch Risiken. Und das gilt eben auch für den KI-Einsatz. Eines der Risiken in diesem Bereich sind Manipulationen – etwa, wenn Sprachmodelle (Large Language Models, LLMs) durch scheinbar harmlose Umformulierungen in beispielsweise Unternehmensreporten diese Texte anders, im schlechten Fall falsch, interpretieren. Und dann Algorithmen oder Menschen Entscheidungen treffen, die auf solchen falschen KI-generierten Interpretationen basieren.
Andere Risiken birgt das Zusammenspiel von Technologien, die voneinander lernen, sich gegenseitig anpassen und dabei automatisch Verhaltensmuster entwickeln. Denn diese Verhaltensmuster können marktverzerrend und damit wettbewerbsschädlich sein. Nicht ausgeschlossen, dass sich dadurch Ereignisse wie der Flash Crash am 6. Mai 2010 wiederholen: Damals fiel der US-Aktien-Index S&P 500 binnen weniger Minuten um fast sechs Prozent; der Dow-Jones-Industrial-Average-Index verlor sogar mehr als neun Prozent. Rasend schnell versechsfachte sich das Aktienhandelsvolumen. Und etliche Aktien fielen vorübergehend auf einen Bruchteil ihres vorherigen Kurses.
Andere technologische Effekte bemerken Menschen oft gar nicht. Selbst dann nicht, wenn die Konsequenzen relevant negativ sind – beispielsweise für die Liquidität (also die Handelbarkeit von Wertpapieren, die Geld-Brief-Spannen und die Kursabweichungen bei Orderausführungen), die Stabilität von Preisen und das Vertrauen in die Marktfunktionalitäten. Vertrauen ist die Grundlage für jede Allokation von Kundengeldern.
Die Finanzwirtschaft transparenter und sicherer machenDas Maß an Vertrauen in alle Arten von technologischen Vorgängen hängt stark davon ab, wie transparent sie funktionieren und inwieweit Nutzer ihre Funktionsweisen verstehen. Beiden Aspekten – Funktionstransparenz und Funktionsverständnis – im Bereich der künstlichen Intelligenz widmen sich mehr und mehr wissenschaftliche Institutionen.
Weil diese Aspekte aus (finanz-)fachlichen und ethischen Gründen so wichtig sind, schreibt der Liechtensteiner Vermögensverwalter Plexus Investments seit dem Jahr 2020 den mit 10.000 Euro dotierten „Förderpreis für Künstliche Intelligenz in der Finanzwirtschaft“ aus. Die im fünften Ausschreibungsjahr (2024) eingereichten Forschungsarbeiten – vor allem Masterarbeiten und Dissertationen – hat die Jury im ersten Halbjahr 2025 intensiv gesichtet. Die Jury bestand aus:
- Walter Farkas, Professor für Quantitative Finance am Institut für Banking and Finance der Universität Zürich und assoziiertes Mitglied des Departements Mathematik an der Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich,
- Christof Kutscher, Mitgründer und Executive Chair von Lancry Natural Capital (Zürich), und
- Stefan Mittnik, Professor für Finanzökonometrie, bis 2020 Inhaber des gleichnamigen Lehrstuhls an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Mitgründer des digitalen Finanzdienstleisters Scalable Capital.
Kürzlich hat die Jury eine Gewinnerin und einen Gewinner ausgezeichnet. Beide haben subtile, aber bedeutende Risiken untersucht, die KI-Modelle mit sich bringen. Und beide eint dieselbe Vision: KI für die Finanzwirtschaft nicht nur intelligenter, sondern auch sicherer zu machen.
Sprachmodell-Schwächen klar aufgedecktDie Gewinnerin – Aysun Can Türetken von der Universität Zürich – ist Master-Absolventin im Fach Wirtschaftswissenschaften (Nebenfach: Data Science). Der Titel ihrer für den Förderpreis eingereichten Masterarbeit lautet: „An Adversarial Attack Approach on Financial LLMs Driven by Embedding-Similarity Optimisation“.
Sie sagt: „Die in der Finanzwelt zunehmende Verbreitung von Natural-Language-Processing-Modellen (NLP) wirft Fragen auf: zum Beispiel, ob NLP-Modelle zuverlässig beziehungsweise robust genug für die Herausforderungen beim Asset Management sind. Mein Forschungsziel war, die Modelle besser zu verstehen und Schwächen zu erkennen, damit wir robustere und verlässlichere Modelle entwickeln können.“
Für ihre Masterarbeit untersuchte Aysun Can Türetken, wie schon kleinste Umformulierungen in Finanztexten Sprachmodelle derart in die Irre führen können, dass die Modelle sogar ihre Sentimentklassifizierungen für die Texte ändern. Von GPT-4o ließ sie fast identische beziehungsweise nur gering voneinander abweichende Sätze generieren – mit der Vorgabe, deren Bedeutung und implizierte Stimmung beizubehalten.
Die Sätze sollten also inhaltlich gleich bleiben. Die getesteten Sprachmodelle waren FinBERT und FinGPT, die kleiner und günstiger als GPT-4o und auf Finanztexte spezialisiert sind. Mittlerweile nutzen etliche Investmentgesellschaften FinBERT und FinGPT für automatische Sentiment-Klassifizierungen. Diese Modelle sollten die marginal veränderten Sätze klassifizieren. Und was passierte?
Beispielsweise stufte das FinBERT den Satz „The company reported a net loss of 50 million euros in the third quarter, down from a profit of 20 million in the same period last year“ als „negativ“ ein. Korrekt! Dagegen klassifizierte FinBERT den nur minimal veränderten Satz „The company had a net loss of 50 million euros in Q3, compared to 20 million euros profit a year earlier“ als „neutral“. Falsch! Die Forschung der diesjährigen KI-Förderpreis-Gewinnerin Aysun Can Türetkens zeigte in vielen Tests klar, dass KI-basierte Sentimentmodelle anfällig für Manipulationen sind.
Unbeabsichtigte Unfairness nachgewiesenDer zweite Förderpreis-Gewinner – Wei Xiong, Doktorand der Universität Oxford – widmete sich einem anderen Risikoaspekt: dem Verhalten lernender KI-Agenten auf Finanzmärkten. KI-Agenten sind Systeme, die eigenständig von Menschen vorgegebene Ziele verfolgen, etwa faire Preisfeststellungen. Die Dissertation von Wei Xiong trägt den Titel „Dynamics of Market Making Algorithms in Dealer Markets“. Für die Arbeit modellierte er, wie algorithmische Market Maker (autonome Preissteller) miteinander interagieren, wenn sie – eigentlich – im Wettbewerb miteinander stehen.
Seine Simulationen zeigten: Auch ohne direkte Kommunikation können solche Agenten Preisstrategien entwickeln, die wie stillschweigend miteinander abgesprochen wirken und dauerhaft erhöhte Spreads zur Folge haben. „Algorithmen müssen nicht miteinander reden, um sich wie abgesprochen zu verhalten“, sagt Wei Xiong. „Diese Form emergenter Koordination ist ein neues systemisches Risiko.“
Entwickler sollten deshalb über reine Performanceoptimierung hinausdenken sowie technologische Lernverläufe dokumentieren und überwachen. „So können sie unter anderem feststellen, ob sich algorithmische Market Maker unbeabsichtigt ‚absprechen‘“, ergänzt Wei Xiong. Auch Regulierer stünden vor neuen Herausforderungen, da bestehende Regeln wie die Best-Execution- und die Anti-Collusion-Regeln auf explizite menschliche Absprache ausgelegt seien – nicht aber auf selbstorganisierte Muster durch algorithmisches Lernen. „Mehr Transparenz, Audits trainierter Modelle und ein überlegteres Design von Preisanfrageprozessen können solche Risiken frühzeitig reduzieren“, sagt Wei Xiong.
Ein kleines Jubiläum großer Leistungen in der KI-ForschungDie Forschungsarbeiten von Wei Xiong und Aysun Can Türetken zeigen einmal mehr, dass Exzellenz bei KI im Asset Management nicht nur eine relativ hohe Prognosegenauigkeit bedeutet, sondern auch Transparenz, Sicherheit und Vertrauen. ‚Einmal mehr‘ bedeutet im Kontext des KI-Förderpreises: im fünften Jahr.
Prognosen optimieren, Verbindlichkeiten managen, Optionsrenditen kalkulierenAngesichts dieses kleinen Jubiläums lohnt ein Rückblick: Im vergangenen Jahr beeindruckten drei Preisträger die Jury mit ihren im Jahr 2023 eingereichten Forschungsarbeiten. Valentin Hasner (heute Junior Portfoliomanager Fixed Income Frontier Markets bei Azimut Investments in Luxemburg) untersuchte auf Basis von Long-Shortterm-Memory-Netzwerken (LSTM, deutsch: Langes Kurzzeitgedächtnis) die Prognosekraft neuronaler Netze für europäische Aktienmärkte – mit differenzierten Ergebnissen über verschiedene Zeitspannen und Marktphasen.
Konrad Müller (heute Associate Quantitative Research bei JP Morgan Chase in London) zeigte mit „Deep ALM“, wie sich Asset-Liability-Management (ALM) durch tiefes Reinforcement Learning optimieren lässt – regulatorisch konform und strategisch belastbar. Mathis Mörke (heute Assistenzprofessor an der École supérieure de commerce de Paris Business School in Paris) überzeugte mit einer Reihe von Arbeiten zur Optionsmarktforschung, in denen er unter anderem mithilfe komplexer Maschine-Learning-Modelle die Vorhersagbarkeit und Fehlbewertung einzelner Optionen quantifizierte – und dabei neue Perspektiven für Faktor- und Renditemodelle eröffnete.
Anleiherenditeprognosen verbessern und statistisches LernenIm Jahr 2023 wurden zwei Preisträger ausgezeichnet: Sebastian Ott (heute Associate Private Markets bei der Liechtensteiner Vermögensverwaltung Principal) und Urban Ulrych (heute Postdoctoral Researcher an der ETH Zürich) zeigten mit ihren Forschungsarbeiten im Jahr 2022, dass Machine Learning nicht nur Prognosen verbessert, sondern auch tief in die Praxis von Portfoliomanagement und Derivatebewertung eingreift: Sebastian Ott analysierte die Cross-Section von US-Unternehmensanleihen und zeigte, dass maschinelles Lernen Renditefaktoren identifiziert, die nicht nur die Portfoliorendite steigern, sondern zugleich das Drawdown-Risiko reduzieren. Urban Ulrych kombinierte statistisches Lernen mit anspruchsvollen Fragestellungen der Finanzpraxis: von dynamischem Währungshedging über stabile Asset-Allokation bis hin zur beschleunigten Preisbildung amerikanischer Optionen mittels neuronaler Netze.
Systematische Anleihestrategien und ausweichende UnternehmenslenkerDie Förderpreisgewinner des Jahres 2024
2022 rückten zwei KI-Wissenschaftler in ihren 2021 eingereichten Forschungsarbeiten zwei bis dahin kaum beachtete Facetten in den Fokus: Colin Glag (heute Associate Portfolio Manager Fixed Income bei Allianz Global Investors in Frankfurt) zeigte, wie maschinelles Lernen – insbesondere entscheidungsbaumbasierte Modelle – genutzt werden kann, um Renditen von Unternehmensanleihen vorherzusagen und systematische Investmentstrategien zu entwickeln.
Und Sasan Mansouri (heute Assistenzprofessor für Digitalisierung und KI an der Universität Groningen) entwickelte ein Modell, das sogenannte „Non-Answers“ in Analysten-Calls identifiziert – und belegte deren ökonomische Relevanz: Ausweichende Antworten von Unternehmensleitungen führen zu negativen Kursreaktionen und erhöhter Unsicherheit am Markt.
Aktienrisiken identifizieren und Faktormodellierung verbessernUnd last but not least an dieser Stelle: Im Jahr 2020 demonstrierten Benjamin Moritz und Riccardo Tegazi, wie vielfältig KI-basierte Methoden zum Asset Pricing beitragen können: Benjamin Moritz (heute Head of Investment Research beim Frankfurter Family Office Finvia) kombinierte textbasierte Konjunkturindikatoren mit maschinellem Lernen, um Risiken und Renditen im Aktienmarkt besser zu erfassen.
Riccardo Tegazi (heute auf europäische Staatsanleihen spezialisierter Händler bei der Bank of America in Paris) zeigte in einem länderübergreifenden Vergleich, wie Machine-Learning-Modelle – von XGBoost bis zu neuronalen Netzen – die Prognosekraft und Erklärbarkeit in der Faktormodellierung deutlich steigern können.
Auch die Rückschau zeigt: Künstliche Intelligenz trägt maßgeblich zur Weiterentwicklung des Asset Managements bei, entwickelt sich zu einem hochrelevanten Forschungszweig und der „Förderpreis für Künstliche Intelligenz in der Finanzwirtschaft“ von Plexus Investments hat sich zu einem Gradmesser für exzellente und verantwortungsbewusste Forschung an der Schnittstelle von KI und Finanzwirtschaft entwickelt.
Über die Gastautoren:
Günter Jäger hat im Jahr 2006 Plexus Investments gegründet und ist seither Geschäftsführer der Liechtensteiner Investmentgesellschaft. Bereits im Jahr 2017 hat er die KI-Denkfabrik von Plexus Investments initiiert.
Aysun Can Türetken ist Master-Absolventin der Universität Zürich und Autorin der 2024 veröffentlichten und 2025 mit dem KI-Förderpreis ausgezeichneten Forschungsarbeit „An Adversarial Attack Approach on Financial LLMs Driven by Embedding-Similarity Optimisation“.
Wei Xiong promovierte an der Universität Oxford und ist Autor der 2024 veröffentlichten und 2025 mit dem KI-Förderpreis ausgezeichneten Dissertation „Dynamics of Market Making Algorithms in Dealer Markets“.
private-banking-magazin