Rezension | Staat oder nicht Staat, das ist hier die Frage
Vor einem Jahr veröffentlichte die EU-Kommission einen Bericht zur Zukunft der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union, der es in sich hatte. Europa hinke in Sachen Produktivität deutlich hinterher, analysierte der stark beachtete Draghi-Report. Hauptautor Mario Draghi, ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank, stellte damals fest: Europa stehe »vor existenziellen Herausforderungen«. In einer Rede in Rimini erklärte Draghi zudem die »neoliberale Phase«, die zwischen den 80er Jahren und dem Beginn des Jahrtausends dominiert habe, für beendet. In jener Zeit habe sich die EU erfolgreich an offene Märkte angepasst. Nun seien jedoch die Regierungen am Zug.
Im »Renationalisierungstaumel« sei jede Wirtschaft nur so stark wie ihre Regierung, spitzte kürzlich eine bürgerliche Tageszeitung die Draghi-These zu. Pendlerpauschale, Bauernbonus und Sondervermögen für Infrastruktur, Klima und Bundeswehr – das Verhältnis von Staat und Wirtschaft wird offenbar neu justiert. In Deutschland und der Welt. Während die EU mit mehr oder weniger marktkonformen staatlichen Anreizen versucht, die Wirtschaft ins Rollen zu bringen, setzen die Regierungen in den beiden anderen großen Wirtschaftsräumen USA und China stärker auf direkte, dirigistische Eingriffe des Staates. Vor diesem Hintergrund bietet die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift »Z« viel Interessantes zum Verhältnis von »Staat und Kapital«.
Der Politikwissenschaftler Frank Deppe, Chronist der Gewerkschaftsbewegung, beschreibt die schon länger schwelende Krise der neoliberalen Weltordnung. Mit der Reaktion auf die Finanzkrise setzte jedoch eine Aufwertung des Nationalstaats ein, nach dem Motto: Jeder ist sich selbst der Nächste. Indem Deppe die Herausbildung des Neoliberalismus seit den 70er Jahren bis hin zum »Niedergang der neoliberalen Ordnung in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09« nachzeichnet, beschreibt er zugleich einen Verlust an »demokratischer Legitimation«. Wie ihn auch der Soziologe Wolfgang Streeck beklagt, der in seinem Buch »Zwischen Globalismus und Demokratie« in der Verteidigung der nationalen Souveränität eine wesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung einer progressiven Politik sieht.
Gleichzeitig mit dem Niedergang der neoliberalen Ordnung und damit verknüpft nahm der Stellenwert staatlicher Interventionen wieder zu, schreibt Deppe. So war eine der ersten Maßnahmen der im Mai gestarteten schwarz-roten Regierung Merz/Klingbeil ein gewaltiges Schuldenprogramm, mit dem Rüstung und staatliche Industriepolitik finanziert werden. Also »Etatismus« pur?
Jörg Goldberg diskutiert vor diesem Hintergrund die – kürzlich auch bei der Jahreskonferenz der Euromemo-Gruppe linker Ökonomen in Athen aufgeworfene – Frage, ob diese Art von modernem Etatismus das Ende des Neoliberalismus darstellt. Der in den Debatten meist unterstellte Gegensatz zwischen Markt und Staat als ökonomische Regulierungsinstanzen sei Ausdruck eines tiefen Missverständnisses, kritisiert der Frankfurter Ökonom: »Denn Neoliberalismus ist ein dezidiert politisches Konzept, kein bloßer Rückfall in das Vertrauen in den Markt als sich selbst regulierende Instanz.«
An der Wiege des Neoliberalismus hat laut Goldberg die Erkenntnis gestanden, dass sich Markt eben nicht selber reguliere und dies auch nicht könne. Der Neoliberalismus, ein in der linken Bewegung gern genutzter Kampfbegriff, grenze sich damit vom klassischen Liberalismus, dem »Manchester-Kapitalismus«, ab. Zwar haben beide eine gemeinsame theoretische Grundlage, nämlich dass der ideale Markt grundsätzlich zu einem Gleichgewicht tendiere. Aber der Neoliberalismus plädiere für Ordnungspolitik, politische Interventionen in die Volkswirtschaft und für einen starken Staat, der sich gegen die Partikularinteressen einzelner Kapitalgruppen durchsetzt. Der Staat diene als ideeller Gesamtkapitalist.
Dem stimmte wohl auch Mario Draghi zu. Dass der neue Etatismus dann doch eine neoliberale Variante darstellt, verdeutlichte der ehemalige italienische Premierminister in einer weiteren Rede: Auf der Nobelpreisträgertagung in Lindau erklärte er, um Anschluss an Spitzentechnologien zu halten und ihre Macht zu wahren, müsse die Europäische Union das größte Hindernis beseitigen: dass die Politik den Schutz des Individuums priorisiere. Datenschutz, Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte – »das ist alles außer innovationsfördernd«.
Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Heft 143 (September 2025). Herausgegeben vom Forum Marxistische Erneuerung e.V., Frankfurt/M., und dem IMSF e.V., 10 Euro.
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