In einem 5200 Jahre alten Grabhügel in Irland soll eine Dynastie von inzestuösen Gottkönigen bestattet sein. Nun sagen Archäologen: Die Funktion des Monuments war eine völlig andere


G. Dagli Orti / De Agostini / Getty
Wenn Menschen in gemeinsamer Arbeit, vielleicht mit Ochsenkarren, vor allem aber mit ihrer eigenen Muskelkraft, mehr als 500 grosse Steine zu einem Gang und einer Kammer aufstellen und anschliessend zweihunderttausend Tonnen Erde darüber aufschütten zu einem zwölf Meter hohen Hügel: Wen, würde man dann vermuten, haben sie als Tote in die Kammer gelegt? Die Leute von nebenan – oder die Mitglieder der Königsfamilie?
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Genau um diese Frage dreht sich ein Disput in der Archäologie.
Vor fünf Jahren veröffentlichte eine Forschergruppe die Ergebnisse der genetischen Untersuchung eines Toten aus Newgrange, einem 5200 Jahre alten Hügelgrab mit 85 Metern Durchmesser in Irland. Die DNA zeigte: Der Tote war das Produkt einer inzestuösen Verbindung, seine Eltern waren entweder Bruder und Schwester oder Elternteil und Kind.
Tolerierter oder institutioneller Inzest, schrieben die Autoren damals, sei fast ausschliesslich aus politisch-religiösen Eliten bekannt, vor allem solchen mit einem Gottkönig an der Spitze wie in Ägypten. Auch in Irland habe um 3100 v. Chr., im Neolithikum, offenbar eine Elitedynastie geherrscht – und Inzest innerhalb dieser Dynastie sei gesellschaftlich gebilligt worden. Internationale Medien griffen die Geschichte von der Dynastie der Inzest-Gottkönige in Irland auf.
Doch diese Geschichte stimme nicht, sagt nun eine andere Gruppe von Archäologinnen, die meisten vom University College Dublin. Das Ergebnis der DNA-Analyse zweifeln Jessica Smyth und ihre Kolleginnen in ihrem Aufsatz in der Fachzeitschrift «Antiquity» nicht an: Den Inzest hat es gegeben. Aber es gab ihrer Ansicht nach keine Dynastie, keinen Gottkönig und keine gesellschaftliche Billigung von Inzest.
Das heutige Newgrange ist das Ergebnis einer RekonstruktionNewgrange, Irisch Si an Bhru, errichtet zwischen 3200 und 3000 v. Chr. und damit tausend Jahre älter als die Pyramiden von Gizeh in Ägypten, ist eines der berühmtesten archäologischen Monumente Irlands. Sein heutiges Erscheinungsbild ist allerdings das Ergebnis einer Rekonstruktion in den 1960er und 1970er Jahren. Eine Mauer aus Stahlbeton stützt nun die Fassade und den Hügel. Die Steinplatten, die stehend einen 18 Meter langen Gang und eine kreuzförmige Kammer bilden und unter der Last der Jahrtausende zur Seite gekippt waren, wurden wieder senkrecht aufgerichtet.
Über dem Eingang befindet sich die sogenannte Dachbox, eine Öffnung, durch die am Tag der Wintersonnenwende morgens der erste Sonnenstrahl in die innere Kammer fällt. Dieses auch durch Augenzeugenberichte aus dem frühen 20. Jahrhundert belegte Schauspiel lässt sich heute noch verfolgen – die Dachbox befindet sich aber gar nicht mehr an ihrer ursprünglichen Position. Sie sitzt etwa einen halben Meter höher als im Neolithikum.
So weit gehende Rekonstruktionen archäologischer Stätten, noch dazu unter Einsatz von Stahlbeton, sind unter Archäologen eine höchst umstrittene Praxis. Dem Besucher prägt sich die weisse Fassade mit darin steckenden dunkleren Steinen als definitives Bild ein. Doch ob Newgrange einst wirklich so aussah, ist nicht sicher. Ein Archäologe kritisierte die Anlage einmal als «Käsekuchen mit getrockneten Korinthen darin».
Michelle Mcmahon / Moment Editorial
Nicht weniger umstritten sind die Details des archäologischen Befunds. In der Kammer im Inneren wurden menschliche Überreste gefunden, darunter das Knochenfragment aus der DNA-Untersuchung: ein Stück Schläfenbein eines erwachsenen Mannes. Die Autoren des Aufsatzes von 2020 gehen davon aus, dass diese Skelettteile bewusst an prominenter Stelle platziert worden seien. Ein Begräbnis in Newgrange spreche für eine aussergewöhnliche gesellschaftliche Position. In einem anderen Aufsatz von 2023 spricht die Hauptautorin dann implizit sogar von einem artikulierten Skelett, also von Knochen, die in ihrer natürlichen anatomischen Position miteinander verbunden sind.
Jessica Smyth und ihre Kolleginnen halten dem nun entgegen: Für ein artikuliertes Skelett gebe es keinen Beleg, nur einen einzigen zweifelhaften Bericht von 1726. Angesichts der gut dokumentierten üblichen Begräbnispraktiken im neolithischen Irland sei es aber sehr unwahrscheinlich. Aus vielen Kammergräbern sind entfleischte, zertrennte und verbrannte Knochen bezeugt, aber keine artikulierten Skelette.
Auch lässt sich nachweisen, dass dem Grab im Laufe der Zeit immer neue Knochen hinzugefügt wurden. Das, schreiben die Autorinnen, deute darauf hin, dass die Erinnerung an einzelne Individuen offenbar nicht im Vordergrund stand. «Wir können nicht davon ausgehen, dass jemand, der Kenntnis von der biologischen Elternschaft oder persönlichen Identität des Toten hatte, über die ‹finale› Ruhestätte des Knochenfragments entschieden hat», schreiben sie.
Inzest war auch im Neolithikum schon ein TabuAuch das spreche dagegen, dass Inzest-Elternschaft sozial gebilligt war. Vor allem aber: In der DNA aus 166 neolithischen Fundorten aus Grossbritannien und Nordirland fand sich kein einziges weiteres Beispiel für Inzest. Genau wie in fast allen vergangenen und heutigen Gesellschaften war er also offenbar auch damals schon Tabu. Der Fall aus Newgrange ist eine Ausnahme – die auch in Gesellschaften mit Tabus vorkommt.
Ebenso wenig kann man laut Smyth und Kollegen annehmen, dass die in Newgrange Bestatteten einer Elite angehörten. Spezialbehandlung wurde in der Archäologie lange mit hohem Status gleichgesetzt und hoher Status mit politischer und wirtschaftlicher Macht. Das wird in jüngster Zeit zumindest von einigen Archäologen grundsätzlich infrage gestellt.
Bei Newgrange kommt hinzu: Wie speziell eine Bestattung dort wirklich war, weiss niemand. Zwar habe es offenbar Selektionskriterien dafür gegeben, wer in solchen Kammergräbern bestattet wurde. Aber welche Kriterien das waren – und wie gross der Anteil der dort Bestatteten an der Gesamtbevölkerung war –, ist unklar.
Das Monument von Newgrange war ein VersammlungsortIn einem zweiten Aufsatz führen die gleichen Autoren aus, was ihrer Meinung nach die wahrscheinlichere gesellschaftliche Funktion von Newgrange war. Wohnhäuser wurden zur Zeit des Baus der Anlage sehr viel weniger substanziell und dauerhaft als zuvor, die Menschen waren mobiler. Wahrscheinlich kamen diese nur zu bestimmten Anlässen im Jahr an Orten wie Newgrange in grossen Gruppen zusammen. Sie bestatteten die zuvor zur Entfleischung ausgelegten Toten, formten neue Beziehungen und – das zeigen weitere genetische Analysen – bekamen Kinder mit Menschen aus Gruppen, die Hunderte von Kilometern entfernt zu Hause waren.
Dabei brachten sie vielleicht auch Materialien zum Bau der Monumente mit. Manche der Steine in Newgrange stammen aus 50 Kilometern Entfernung. Sicher ist: Monumente wie Newgrange wurden über Generationen errichtet, verändert und genutzt. Für die Menschen hatten sie eine starke kommunale Funktion. Einen inzestuösen Gottkönig brauchten sie nicht.
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