Hebt Friedrich Merz Reichweitenbeschränkung für deutsche Waffen in der Ukraine auf? „Eine reine Katastrophe“

Was gilt denn nun: Hat die Bundesregierung unter Friedrich Merz die Reichweitenbeschränkung für Waffen an die Ukraine plötzlich aufgehoben, damit das Land auch Ziele auf russischem Territorium angreifen darf? Oder geschah das schon vor einer Weile – und die Aufregung ist unbegründet?
Kanzler Merz hat jedenfalls für Verwirrung gesorgt. Innerhalb von 24 Stunden äußerte er sich zweimal zur Unterstützung der Ukraine, dummerweise weichen seine Aussagen aber voneinander ab. Damit zog Merz nicht nur Kritik aus der Opposition auf sich, die seine Worte dankbar aufnahm, immerhin gilt er einigen als außenpolitischer Scharfmacher. Er sorgte auch für Unruhe in der eigenen Koalition.
Merz’ Aussagen seien „eine reine Katastrophe“, sagt der Linke-Fraktionsvorsitzende Sören Pellmann der Berliner Zeitung. „Einerseits will er mehr Waffen liefern und Reichweitenbeschränkungen aufheben, andererseits sagt er, dass er mit einer längeren Dauer des Krieges rechnet, da dieser angeblich nur durch militärische Erschöpfung einer oder beider Seiten enden würde.“ Pellmann fragt: „Was meint er denn, welches Land zuerst erschöpft sein wird – Russland mit seinen 144 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern oder die Ukraine mit 39 Millionen Menschen?“
Die Merz'sche Volte nahm am Montag ihren Anfang. Da war der Kanzler zu Gast auf der Republica in Berlin, einer Konferenz für Digitales. Merz wurde dort auch zur Außenpolitik befragt – es ging um die deutsche Haltung zum Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen, die Hilfe für die Ukraine. „Es gibt keinerlei Reichweitenbeschränkungen mehr für Waffen, die an die Ukraine geliefert worden sind, weder von den Briten noch von den Franzosen noch von uns. Von den Amerikanern auch nicht“, sagte er. „Das heißt also, die Ukraine kann sich jetzt auch verteidigen, indem sie zum Beispiel militärische Stellungen in Russland angreift. Das konnte sie bis vor einiger Zeit nicht.“
Merz sprach also von „jetzt“, da dies endlich möglich sei, und von „vor einiger Zeit“, als die Situation demnach eine andere war. Wie man es auch dreht und wendet: Das klang nach Veränderung, einem Kurswechsel.
Man spreche von „Long-Range Fires“, sagte der Kanzler auf der Republica. Davon, die Ukraine „auch mit Waffen“ auszustatten, „die militärische Ziele im Hinterland angreifen“.

Am Dienstag dann, auf einer Pressekonferenz mit Finnlands Regierungschef Petteri Orpo, wollte Merz die Wogen offenbar glätten. Immerhin hatte sich mittlerweile sein Koalitionspartner SPD zu Wort gemeldet. Es schien, als seien die Sozialdemokraten erstaunt über die forschen Töne des Kanzlers. Der Außenpolitiker Ralf Stegner bezeichnete den Schritt als „nicht hilfreich“, forderte mehr Diplomatie. Und der Vizekanzler Lars Klingbeil betonte, es gebe „keine neue Verabredung“ für die Reichweite von Waffen.
Im finnischen Turku sagte Merz, er habe am Vortag in Berlin „etwas beschrieben, was schon seit Monaten geschieht, dass die Ukraine nämlich das Recht hat, die Waffen, die sie geliefert bekommt, auch einzusetzen, auch jenseits der eigenen Landesgrenzen einzusetzen gegen militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet“. Das sei notwendig, so Merz. Nur auf eigenem Territorium könne man sich nicht genug verteidigen. „Insofern wird die Ukraine damit seit langer Zeit richtigerweise in die Lage versetzt, sich wirklich gegen die russische Aggression zu verteidigen.“
Fakt ist, dass Merz’ Vorgänger im Amt, Olaf Scholz, im vergangenen Jahr zwar den Einsatz bestimmter Waffen gegen Stellungen auf russischem Territorium für die Region um die ukrainische Großstadt Charkiw erlaubt hatte. Anders als Großbritannien oder Frankreich wandte sich die damalige Ampelkoalition jedoch gegen weitergehende Aufhebungen der Einsatzbeschränkungen. Russlands Präsident Putin, so Scholz’ Ansatz, sollte nicht provoziert werden. Von einem Gleichschritt mit anderen europäischen Unterstützern der Ukraine, wie er Merz vorschwebt, konnte unter Scholz in dieser Frage keine Rede sein.
Allerdings hat Deutschland bislang auch kaum Waffen geliefert, mit denen die Ukraine russische Stellungen oder Nachschublinien weit hinter der Frontlinie treffen könnte. Der Raketenwerfer Mars II mit einer Reichweite von etwa 85 Kilometern und die Panzerhaubitze 2000 mit einer Reichweite von etwa 35 Kilometern sind die einzigen beiden Waffensysteme, auf die das zutrifft.
Womöglich sprach Merz am Montag also von diesen beiden Systemen. Das jedenfalls vermutete der Militärexperte und Politikberater Nico Lange im Gespräch mit dem Nachrichtenportal T-Online. Mit Blick auf den Munitionsmangel der ukrainischen Armee sagte er: „Merz’ Ankündigung ändert faktisch nur dann etwas, wenn Deutschland der Ukraine auch die entsprechende Munition mit hoher Reichweite liefert.“ Nach Recherchen von T-Online könnte auch ein Langstreckenwaffenprogramm der Ukraine finanziert werden oder ein Ringtausch mit verbündeten Staaten wie Frankreich anstehen – um der Ukraine aus einem anderen Land reichweitenstarke Waffen zu liefern.
Linke-Politiker Pellmann fordert diplomatische InitiativenWer wollte, konnte Merz auf der Republica aber auch so interpretieren, dass er die Lieferung von Taurus vorbereitet. Es wäre ein kommunikativer Umweg. Schließlich hatte der Kanzler seiner Regierung selbst verordnet, nicht mehr öffentlich über die Lieferung von Waffensystemen an die Ukraine zu diskutieren. Russland solle im Unklaren bleiben. Wer den Kanzler beim Wort nimmt, kann jedoch kaum anders, als an den reichweitenstarken Marschflugkörper zu denken. Da hilft auch sein Zurückrudern am Folgetag in Finnland nicht.
Den Marschflugkörper Taurus mit einer Reichweite von 500 Kilometern, mit dem selbst Moskau erreicht werden könnte, hat Berlin bisher nicht geliefert. Die USA, Frankreich und Großbritannien haben den ukrainischen Streitkräften dagegen Raketen mit einer Reichweite von teilweise mehr als 250 Kilometern zur Verfügung gestellt, die Medienberichten zufolge schon gegen russisches Territorium eingesetzt worden sein sollen.
Was genau er meinte, als Merz am Montag einen Kurswechsel in der deutschen Ukraine-Politik ankündigte, weiß womöglich nur der Kanzler selbst. Klarheit könnte der kommende Besuch des ukrainischen Präsidenten in Berlin bringen, Wolodymyr Selenskyj wird laut einem Bericht des Spiegels am Mittwoch erwartet.
Derweil erinnert die Linke den Kanzler an seine eigene Ansage, wonach öffentliche Diskussionen über Taurus und Co. der Vergangenheit angehören sollten. „Anstatt ständig nur über Waffenlieferungen zu sprechen“, sollte Merz aufzeigen, wie ein Weg zum Ende des Krieges durch Diplomatie gelingen könne, welche vertrauensbildenden Maßnahmen Deutschland zu ergreifen bereit sei, wie Nachfolgeverträge für den KSE-Vertrag, den INF-Vertrag und eine Wiederbelebung des Open-Skies-Vertrag aussehen könnten „und welche diplomatischen Initiativen die Bundesregierung wieder aufzugreifen bereit ist“, sagt der Fraktionsvorsitzende Sören Pellmann. (mit dpa)
Berliner-zeitung