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Der legendäre Alpinist Stephan Siegrist attackierte einen jüngeren Kollegen, jetzt kämpft er um seinen Ruf

Der legendäre Alpinist Stephan Siegrist attackierte einen jüngeren Kollegen, jetzt kämpft er um seinen Ruf
Einer, der stets alles im Griff zu haben schien: Stephan Siegrist 2021 am Mount Shivling in Indien.

Die Karriere des Profibergsteigers Stephan Siegrist ist einzigartig. Ende der 1990er Jahre gehörte der Berner zu den Besten jener Ära. Und jetzt, mit 52, strebt er immer noch nach neuen Erfolgen.

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Siegrist gelangen Erstbegehungen im Himalaja, in Patagonien, in der Antarktis. Aber vor allem machte er die Eiger-Nordwand zu seinem zweiten Wohnzimmer. Er war Teil des Teams, als SRF dort eine Besteigung live übertrug, bezwang die Wand in der Ausrüstung der Erstbegeher von 1938, eröffnete mit der später verstorbenen Legende Ueli Steck eine besonders schwierige Route. Und stets beherrschte er das Spiel mit der Öffentlichkeit. Warum es ihn immer wieder aufs Neue an den Schicksalsberg ziehe, erklärte Siegrist in der NZZ einmal so: «Wenn du am Eiger zweimal auf die Nase fliegst, kommst du überall in den Medien

In diesen Tagen muss der charismatische Alpinist feststellen, dass man am Eiger sogar auf die Nase fallen kann, ohne überhaupt in die Wand eingestiegen zu sein. Es ist für ihn, den Erfolgsverwöhnten, eine einschneidende Erfahrung: Plötzlich kämpft Siegrist, der längst ehrenvoll zurückgetreten sein könnte, um seinen Ruf. Er hat es sich selbst eingebrockt.

In 15:30 Stunden drei Nordwände bezwungen

Das Unheil begann mit einer historischen Leistung von zwei 19 Jahre jüngeren Kollegen. Im April bezwangen der Schweizer Nicolas Hojac und der Österreicher Philipp Brugger die Nordwände von Eiger, Mönch und Jungfrau am Stück in 15:30 Stunden. Hojacs Sponsor Red Bull verbreitete die Nachricht, das Duo habe einen 21 Jahre alten Speed-Rekord gebrochen. Tatsächlich hatten Stephan Siegrist und Ueli Steck die drei Nordwände im Jahr 2004 in 25 Stunden bestiegen.

Siegrist störte sich an der Kommunikation. Nachts um 1 Uhr 4 teilte er mehreren Red-Bull-Mitarbeitern per E-Mail mit, es sei nicht richtig, die beiden Projekte gleichzusetzen: «Einen 200-Meter-Sprint vergleicht man auch nicht mit einem Hürdenlauf über dieselbe Distanz.»

Er und Steck hätten seinerzeit an der Jungfrau eine andere, schwierigere Linie gewählt: nicht die Lauperroute wie Hojac und Brugger, sondern das Ypsilon-Couloir. Siegrist bat Red Bull um eine Richtigstellung. Er wisse, schrieb er ferner, dass ihm nun Neid unterstellt werden könne – «was es definitiv nicht ist». Im Gespräch ergänzt Siegrist, es gehe ihm um eine wahrheitsgetreue Berichterstattung, damit auch die kommende Generation Erfolgschancen bei der Trilogie habe.

Die Nachricht entpuppte sich als Eigentor. Während eine direkte Antwort von Red Bull ausblieb, kam es zu einem Austausch zwischen Hojac und Siegrist, der rasch frostig wurde, weil Ersterer die Jungfrau-Begehung via Ypsilon-Couloir von Letzterem anzweifelte. Hojac konfrontierte Siegrist mit Bildern von dessen eigener Website, die ihn 2004 auf der Lauperroute zeigen. Siegrist antwortete, diese stammten von einer separaten Erkundungstour. Er vertrat auch die Auffassung, die Lauperroute gehöre gar nicht zur Nordwand, sondern befinde sich auf der angrenzenden Gipfelrippe, Hojacs Trilogie sei also inkomplett.

Nicolas Hojac.

Hojac liess nicht locker. In Bedrängnis geraten, schrieb Siegrist diesem schliesslich, der Helikopterpilot Thomas Kohler könne bezeugen, dass er mit Steck seinerzeit das Ypsilon-Couloir durchstiegen habe. Denn Kohler habe ihnen kurz vor Schluss ein 50-Meter-Seil heruntergelassen.

Diese Aussage war eine Steilvorlage für Hojac, der den Chat mit mehreren Journalisten teilte; auch der «Tages-Anzeiger» berichtete bereits über den Streit. Hojac urteilt in scharfen Worten über Siegrists Eingeständnis, das Nutzen fremder Hilfe verschwiegen zu haben: «Das ist nichts anderes als Betrug.» Siegrist weist den Vorwurf vehement zurück, doch auch er sagt: «Wir hätten das Seil zwingend erwähnen müssen.»

Wer Gepflogenheiten hinterfragte, wurde zusammengefaltet

Zwistigkeiten zwischen Bergsteigern sind keine Seltenheit. Es gibt bei der Rekordjagd in Steilwänden selten absolute Wahrheiten. Immer wieder kommt es zu Streit über Routenverläufe, Schwierigkeitsbewertungen, verwendete Hilfsmittel.

Bisher war es üblich, dass die Alpha-Tiere der Szene den Rahmen definierten, in dem Leistungen zu bewerten waren: Alpinistische Legenden wie Reinhold Messner, aber auch renommierte Vertreter späterer Generationen – also Männer wie Siegrist. Jüngere, die es wagten, Gepflogenheiten infrage zu stellen, wurden schon einmal zusammengefaltet. Man regelte die Dinge unter sich.

Im gegenwärtigen Streit deutet sich ein Paradigmenwechsel an. Hojac gibt nicht klein bei, wagt sich an die Öffentlichkeit – und arbeitet mit professionellen Methoden. Mit einem Online-Tool wies er nach, dass Siegrist dieses Frühjahr auf seiner Website mehrere Angaben angepasst hat: Lange hiess es dort, er und Steck hätten 2004 die Lauperroute geklettert, erst jetzt ist dort vom Ypsilon-Couloir die Rede. Ausserdem verschwanden Bilder, die das Duo in der Abendsonne auf der Lauperroute zeigten. Auch diesen Scoop reichte Hojac an Journalisten weiter.

Siegrist bestätigt die Änderungen und bemüht sich in Erklärungsversuchen. Die Bezeichnung auf der Website sei falsch gewesen, daher habe er sie korrigiert. Die Bilder habe er nur zu Illustrationszwecken verwendet, weil Steck und er bei der Besteigung in die Nacht geraten seien. Und die Sache mit dem Seil? Man habe es nicht aktiv kommuniziert, weil man das selbstgesteckte Ziel, die Trilogie in 24 Stunden zu klettern, verfehlt habe.

Ohnehin wünscht sich Siegrist, dass über Grundsätzlicheres geredet würde. Zum Beispiel darüber, wie wenig Leistungen vergleichbar seien, die unter völlig unterschiedlichen Bedingungen erfolgt seien. Doch er ist nicht nur medial in die Defensive geraten. Auch Bergsteigerkollegen bringen hinter vorgehaltener Hand ihre Verständnislosigkeit zum Ausdruck.

Es ist eine harte Lektion für einen, der bisher stets als transparent und integer galt. «In über dreissig Jahren alpinistischer Tätigkeit musste ich mir nie den Vorwurf gefallen lassen, ich hätte getäuscht oder gemogelt», sagt Siegrist. Er ergänzt mit Blick auf den nahenden Abschied vom Profidasein: «Vor meinem nächsten Karriereschritt trifft es mich besonders hart.»

Wo er und Steck die Jungfrau-Nordwand bezwangen, wird sich wohl nie mit letzter Gewissheit klären lassen. Der von Siegrist ins Spiel gebrachte Zeuge Thomas Kohler bringt nur begrenzt Licht ins Dunkel. Er sagt am Telefon, dass er den genauen Routenverlauf von oben seinerzeit nicht habe einsehen können. Er vermutet, dass Siegrist und Steck kaum auf der Lauperroute unterwegs gewesen seien: Sie seien topfit gewesen und wären dort kaum in Schwierigkeiten geraten. Mehr als ein unterstützendes Indiz ist die Aussage indes nicht.

Als Hojac im April auf dem Jungfrau-Gipfel stand, wirkte es, als hätte er den Zwist vorhergesehen. Im Augenblick seines Triumphs stimmte er gegenüber seinem Kletterpartner Brugger ein Loblied auf die Vorgänger Steck und Siegrist an. «Wir haben das Projekt von Ueli und Steff zu Ende gebracht», sagte Hojac. «Sie waren die Pioniere.» Zu sehen ist die Szene im Film «The Fast Line». Brugger antwortete: «Andere Zeit, andere Bedingungen, man kann es nie vergleichen.» Darauf Hojac: «Das ist das Schöne im Bergsteigen.»

Der Moment des Triumphs: Nicolas Hojac and Philipp Brugger im April auf dem Jungfrau-Gipfel.

Ihr Wortwechsel auf 4158 Metern über Meer war eine Bekundung grossen Respekts. Siegrist wäre gut beraten gewesen, sie unkommentiert stehen zu lassen. Niemand würde dann mit 21-jähriger Verspätung darüber diskutieren, ob er die Jungfrau-Nordwand 2004 einige Meter weiter links oder weiter rechts bezwang. Zumal es sich bei nüchterner Betrachtung um eine Petitesse handelt. Die damalige 25-Stunden-Tour über die drei berühmten Gipfel gilt unter Alpinisten ebenso als wegweisend wie die deutlich schnellere Wiederholung im Frühjahr 2025.

Immer noch beruht der Respekt auf Gegenseitigkeit, trotz allem, was vorgefallen ist. Siegrist sagt über seine Nachfolger Hojac und Brugger: «Sie sind Vertreter einer neuen Generation, die das Bergsteigen noch einmal auf ein neues Level hebt.» Das Statement hilft kaum. Das Verhältnis der einstigen Freunde ist zerrüttet.

nzz.ch

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